„Ich suche Freunde“ [sagte der kleine Prinz] „was bedeutet ‚zähmen‘?“
„Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet, ‚sich vertraut machen‘ “. (Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry)
Ich habe hier http://www.relue-online.de/2016/09/heisst-zaehmen-vertraut-machender-kleine-prinz-neu-uebersetzt/ einen sehr interessanten Text über die Übersetzung des französischen apprivoiser aus dem Originaltext in das Deutsche „zähmen“ gelesen. Nachdem ich mit der Version des kleinen Prinzen aufgewachsen bin, in der das Wort „zähmen“ verwendet wird, habe ich nie über diesen etwas eigenwilligen Sprachgebrauch nachgedacht. Tatsächlich ist das französische apprivoiser offenbar ein viel weiter gefasster Begriff, so dass auch andere Übersetzungen denkbar gewesen wären.
Dass aber in der mir bekannten Übersetzung das Wort „zähmen“ verwendet wurde, hat merklichen Einfluss auf meine Idee von „zähmen“ genommen. An sich kann „zähmen“ ein recht beherrschender Prozess sein, der mit Machtergreifung über ein anderes Lebewesen einhergeht. „Zähmen“ kann bedeuten, dem wilden Tier seine Wildheit zu nehmen – nicht immer im positiven Sinne.
Aber weil ich mit dem kleinen Prinzen aufgewachsen bin, ist „zähmen“ für mich durch und durch positiv besetzt. Für mich bedeutet es – wie der Fuchs sagt – „sich vertraut machen“. Aber der kleine Prinz lässt uns noch eine andere Bedeutung vermuten: es könnte auch heißen „Freunde werden“.
Es ist eine in Vergessenheit geratene Sache, sagt der Fuchs. Ist es etwas altmodisches? Hat man das früher öfter gemacht? Vielleicht. Aber vielleicht ist es auch ein Sache, die wir immer wieder vergessen. Weil wir meinen, den anderen zu kennen – wo wir doch schon 3 Wochen mit ihm befreundet sind. Weil wir meinen, den anderen zu kennen – wo wir doch alle seine Facebook-Posts gelesen haben. Weil wir meinen, den anderen zu kennen – weil wir wissen, wann er Geburtstag hat und was er am liebsten isst.
Zähmen bedeutet für mich so viel mehr: zu wissen, wie der andere unter Stress reagiert. Zu wissen, was der andere als Beleidigung empfindet. Zu wissen, was der andere braucht, wenn er traurig ist. Zum Beispiel. Und noch so viel anderes.
Und das passiert nicht in 3 Wochen. Das passiert auch nicht in 3 Monaten. Das passiert ansatzweise in 3 Jahren. Zähmen ist ein immer währender Prozess, finde ich. Da der, den ich gezähmt habe, sich verändert und ich mich verändere, müssen wir uns immer neu vertraut machen. Je öfter wir das tun, desto vertrauter werden wir, desto tiefer wird unsere Bindung, desto mehr sind wir Freunde.
Und hier steht nun mein kleiner Duncan, und schon jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein, so sehr ist er Teil meines Lebens geworden. Aber ich muss mir jeden Tag eingestehen: mit dem Zähmen ist es noch nicht so weit her. Am Montag hatte er „Halbgeburtstag“. Das ist ein Tag, den ich aus meiner Familie kenne, den wir feierlich begangen haben, wenn eins von uns Kindern ein halbes Jahr älter wurde. So war der Weg zum echten Geburtstag nicht so weit.
Duncan wurde am Montag 1,5 Jahre alt. Er ist also noch ein echtes Kind, manchmal neige ich dazu, das zu vergessen, weil er sich schon so erwachsen gibt.
Hier bei uns ist er jetzt noch kein halbes Jahr. Erst Ende März wird das halbe Jahr voll. Von „gezähmt“ kann also wohl noch keine Rede sein. Auch das ist eine wichtige Finlay-Lektionen: Zähmen braucht Zeit.
Im Moment denke ich viel an die erste Zeit mit Finlay zurück, während ich mein Buch überarbeite. Erinnerungen kommen hoch, wie ich mich damals gefühlt und was ich erwartet habe. Fast 9 Jahre sind seit meiner ersten Begegnung mit Finlay vergangen. Irgendwie hatte ich Dummerchen damals die Idee, dass ich wüsste „wie man Pferde ausbildet“ und dass die Pferde eben doch alle mehr oder weniger gleich funktionieren. Ich hatte gedacht, dass mein junges Pferd sich in das Ausbildungssystem meiner Wahl einfügen würde, so wie ich – wenn auch nur gezwungenermaßen – mich in das deutsche Schulsystem eingefügt hatte. Warum war mir nicht gleich aufgefallen, dass da was nicht stimmen kann? Wo ich mich doch selbst in diesem System nie wohlgefühlt hatte. Klar, mein Ausbildungssystem war ja so viel besser als unser Schulsystem. War es ja auch. Nur – es war halt nicht das richtige für Finlay. Und da hat Finlay ein Weilchen gebraucht, um mir das zu erklären.
Vielleicht hat es mir trügerische Sicherheit gegeben, damals, in der Aufregung, jetzt endlich alles so machen zu können wie ich es möchte – nämlich „richtig“. Ich habe mir selbst vorgemacht, ich könnte weitgehend ohne Fehler auskommen. Ich hatte mir doch glatt eingebildet, mehr zu wissen als mein Pony. Und habe manchmal verpasst, mir die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken und hin zu schauen, was mein Pony wohl eigentlich für ein Pony ist. Hat ganz schön lang gedauert, bis Finlay sich durchgesetzt hatte.
Entschuldige, mein Finlay. Ich habe geglaubt, schlau zu sein und heute weiß ich, wie dumm das ist.
Duncan profitiert nun von Deiner unermüdlichen Arbeit, denn heute bin ich schlauer: ich weiß, wie dumm ich bin. Und ich habe zwei Menschen an meiner Seite, die mich immer wieder darauf hinweisen, dass es nicht nötig ist, die selben Fehler noch einmal zu machen. Diese beiden Menschen übernehmen jetzt Deinen Part, mein schöner Finlay, und stoßen mich immer wieder mit der Nase darauf, dass ich hinschauen muss, flexibel bleiben und mein Ausbildungssystem an mein Pony anpassen anstatt umgekehrt. Vielleicht flüsterst Du ihnen das ein, manchmal erinnern die beiden mich so an Dich, in der Art wie sie das sagen.
Zähmen, das ist für mich im ersten Schritt so etwas wie „kennenlernen“. Und das kann voller Überraschungen sein.
So hat Duncan mich in den letzten Wochen wieder und wieder überrascht. Dass er schreckfest sein würde, war zu erwarten – rassebedingt. Dass er gerne Abenteuer erleben möchte habe ich auch erwartet, das war ihm ja schon anzumerken und ein Grund für mich, ihn zu kaufen.
Was mich überrascht ist seine fast schon unheimliche Auffassungsgabe und sein strategisches Ausprobieren und lernen.
Neulich zum Beispiel:
Ich will mit Diego in der Halle etwas Bodenarbeit machen, aber die Ponys stehen alle da drin. Also muss ich nun alle Ponys rausschmeißen bis auf Diego und dann das sehr breite Tor schließen. Das birgt seine Tücken, denn die Ponys wollen keineswegs raus, die wollen Kekse und Aufmerksamkeit bekommen. Im Laufe der Zeit haben wir also etabliert, dass ich die Ponys mehr oder weniger einzeln raus schicke und die, die draußen sind, genau vor dem (noch offenen) Tor stehenbleiben, wo sie dann, wenn sie artig warten, einen Keks bekommen. Erst wenn alle draußen sind, die draußen sein sollen, mache ich das Tor zu. So geht es ganz gut. Problem: Duncan kennt offiziell noch kein Wartekommando (ich habe das bisher genau einmal gemacht, vor Wochen, und da bin ich immer nur schnell einmal um ihn rum gelaufen bis ich auch schon wieder da war und den Keks geben konnte.)
Von „ich stelle dich da ab, sage dir dass du warten sollst, rufe ein anderes Pferd gehe dann noch hin um es zu holen weil es trotz rufen nicht kommt und du stehst da und wartest geduldig auf deinen Keks“ sind wir noch meilenweit entfernt. Dachte ich. Aber da habe ich wieder die Rechnung ohne den Ritter gemacht!
Caruso steht neben ihm (der weiß wie es geht und macht es vor) und was soll ich sagen: Duncan wartet, lässt sich einen Keks geben, wartet wieder, lässt sich wieder einen Keks geben…. Er weiß ganz genau wie das geht. Wie Finlay es immer gemacht hat, so macht er es auch: kein Huf bewegt sich (das ist die Keks-Bedingung). Der Hals reckt sich in die Nähe des Kekses, der Kopf wird schief gelegt, die Lippe vorgestreckt, das ganze Pony ist eine einzige Ungeduld. Aber die Hufe stehen wie angewurzelt. Ich kann nur vermuten, dass er mal wieder einfach nachmacht, was er bei den anderen sieht.

Ich hingegen bin so baff, dass ich mich nachher nur schwer konzentrieren kann als ich mit Diego arbeite. Und seitdem wird mir immer ganz anders, wenn ich sehe, wie Duncan da steht und zuschaut, vor allem wenn ich mit Merlin Piaffe, spanischen Schritt und „steigen“ übe. Und wer weiß zu was für Gelegenheiten er noch „mit den Augen klaut“. Denn es ist zwar von Vorteil, wenn er sich viele gute Sachen abschaut, aber spanischen Schritt und Steigen darf er gerne noch ein paar Jahre weglassen – bis ich ihn gut genug kenne für so einen Quatsch. Wenigstens bin ich jetzt gewarnt und kann – wenn plötzlich unerwartete Verhaltensweisen auftreten – erstmal überprüfen ob er sich das wohl irgendwo abgeguckt hat. Es stimmt schon: in mindestens zwei Situationen hatte ich bei Finlay auch eindeutig den Eindruck, er hätte sich etwas abgeschaut. Allerdings waren seine Nachmach-Versuche immer geprägt von Zufälligkeit, so wie ich es von den meisten Tieren kenne. Man probiert halt mal so herum. Bei Duncan hingegen habe ich das Gefühl, es gibt ein festgelegtes Testprotokoll, und das macht ihn so schnell und erfolgreich beim Lernen. Er probiert nicht nur das gewünschte Verhalten, er probiert – so mein Eindruck – auch gezielt das Gegenteil um herauszufinden, welche Konsequenzen das hat. Wenn die Antwort meinerseits nicht ganz eindeutig ausfällt, steigert er das Verhalten (in beide Richtungen) bis er genau weiß, was Sache ist. Wenn er sich dann auskennt, zeigt er zuverlässig das gewünschte Verhalten (es sei denn natürlich er hat gute Gründe das nicht zu tun. Langeweile zum Beispiel). Dieses „Gegentesten“ ist neu für mich. Manchmal wird mir Angst und Bange. Wo ich doch neulich erst wieder meiner Schülerin erklärt habe, dass das Erarbeiten eines guten Lernverhaltens ja erst mal Zeit in Anspruch nimmt. Manchmal gehen Jahre dafür drauf, bis das Pferd ein Lernverhalten im Zusammenhang mit uns Menschen entwickelt hat, das uns schnelle, saubere Kommunikation ermöglicht.
Duncans Lerntaktik ist jetzt schon ausgefeilter als die vieler erwachsener Pferde. Um Himmels willen, wo soll das hinführen, wenn er mehr Erfahrung hat?
Nun, wir werden sehen. Das kleine, gut geölte, PS-starke Maschinchen zwischen seinen Ohren läuft jedenfalls Tag für Tag auf Hochtouren. Er beobachtet mich und zieht seine ganz eigenen Rückschlüsse – wie viel er von diesen Rückschlüssen preis gibt und wie viele er für sich behält, weiß ich nicht. Und ich beobachte ihn, mit zunehmendem Vergnügen, und bin froh, dass ich so ein tolles Pony gefunden habe und dass die Verrücktheit, ihn zu kaufen, sich als echter Glücksfall entpuppt.
Ein Pferd kaufen ist ein bisschen wie ein Blind Date, sagt meine Freundin. Und recht hat sie. 15 Minuten habe ich mit Duncan verbracht und dann habe ich mich entschieden. Von Kennen kann da ja keine Rede sein. Es ist ein Sprung ins Wasser – und man hofft, dass es nicht allzu kalt ist.

Danach kommt dann die eigentlich spannende Zeit: die Zeit des Zähmens.
Im kleinen Prinzen wird Zähmen als Einbahnstraße beschrieben: „bitte… zähme mich!“ sagt der Fuchs. Aber ich möchte widersprechen. Wenn zähmen bedeutet, sich vertraut zu machen, dann muss es von beiden Seiten kommen. Duncan macht sich mit mir vertraut, indem er mich beobachtet und Verhaltensweisen ausprobiert und ich mache mich mit ihm vertraut – indem ich ihn beobachte und Verhaltensweisen ausprobiere.
„Man kennt nur die Dinge, die man zähmt“ sagte der Fuchs (eine etwas unglückliche Übersetzung, denn weder Duncan noch ich sind „Dinge“, aber was soll’s.)
Zähmen braucht Zeit, aber auch Offenheit und den Mut, nicht vorwegzunehmen, was jetzt passieren könnte oder sollte, sondern hin zu schauen was tatsächlich passiert. Finlay hat mir das in aller Deutlichkeit erklärt, und jetzt habe ich die Chance, es besser zu machen als vor 9 Jahren. Duncan hingegen ist ein Naturtalent, was das Zähmen angeht, und hat mich bereits sehr gut durchschaut, scheint mir…

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