Fast jeder kennt die Geschichte von den indischen Trägern im Himalaya, die nach der Überquerung eines Passes warteten, damit ihre Seele nachkommen konnte.
In unserer Gesellschaft ist warten irgendwie etwas ganz schlimmes. Lebenszeitverschwendung. Immer an die schnellste Kasse und bloß keine Sekunde warten müssen um im Internet einen Film herunterladen zu können. Das schnellste Auto fahren und niemals auf den Zug warten müssen. Warten, das ist furchtbar.
Auch ich kann warten oft nicht leiden – es hängt davon ab worauf ich warte. Aber ich habe erfahren, dass warten auch etwas sehr wertvolles sein kann. Oft warte ich mit Pferden vor dem Anhänger (während meine Schüler im Hintergrund ungeduldig werden), weil ich erlebt habe, dass die Pferde diese Wartezeit gut nutzen und nachher eine gute Entscheidung treffen. Bei Duncan habe ich auch gelernt, die Gerte zu heben und irgendwo an seinen Körper zu zeigen (ohne ihn zu berühren) und dann zu warten. Weil er immer etwas gutes daraus macht.
Warten, damit die Seele nachkommen kann ist noch etwas anderes. Dieses Jahr – in ein paar Wochen – wird Finlays dritter Todestag sein. Und dieses Jahr ist vielleicht das Jahr in dem meine Seele nachkommt. Dieses Jahr ist vielleicht das Jahr, in dem auch meine Seele endlich in der neuen Situation ankommt (die so neu ja eigentlich nicht mehr ist): Finlay ist nicht mehr hier, dafür ist Duncan hier. In der Zeit seit Finlays Tod habe ich zwar nicht nur gewartet – ich habe mein Leben gelebt, mein Pony ausgebildet und eine Therapie gemacht – aber ich habe auch immer wieder innegehalten und gewartet. Während dem Sammeln von Pferdeäppeln, dem Mähen der Wiese oder anderen Tätigkeiten die nicht so viel Konzentration erfordern, habe ich meiner Seele zugehört und gewartet und gehofft, dass sie sich in dieser neuen Situation einfindet. Manchmal dachte ich, sie sei schon angekommen, aber ich wurde eines besseren belehrt. Oft merkte ich bei einer kleinen Besserung erst, wie schlecht es mir vorher ging.
Es ist kein Zufall, dass er jetzt so viel besser wird. Es liegt zu einem großen Teil daran, dass Duncan mich jetzt trägt. Ich muss nicht mehr ständig auf meinen eigenen Füßen unterwegs sein und – noch viel faszinierender – ich muss nicht mehr ständig die gesamte Verantwortung allein tragen. Am Dienstag, als Duncan mich durch den Wald getragen hat und fast unermüdlich wirkte (fast! Dazu komme ich gleich noch), habe ich es deutlich gemerkt. Wenn ich auf seinem Rücken sitze, nimmt er ein Stück der Verantwortung auf sich. Anstatt sich ständig damit zu beschäftigen, ob er nicht Schabernack machen könnte, mich mal kneifen oder nach einem Grashalm haschen oder so, sind da weite Strecken auf denen er mit gespitzten Öhrchen in die Welt lauscht und mich im flotten Schritt voran trägt, was ihm offensichtlich sehr viel besser gefällt als wenn ich immer als Bremsklotz neben ihm hänge. Er kann sich offensichtlich besser konzentrieren, wenn er nicht ständig in Versuchung ist, ein Spiel mit mir anzufangen – dieses Phänomen konnte ich auch schon beim Fahren vom Boden beobachten. Wir können viel besser zusammen die Welt genießen und sind über meinen Sitz viel selbstverständlicher und natürlicher miteinander verbunden als es über jeden Strick möglich wäre – im Gegenteil, der Strick nervt oft, aber ohne geht es nun mal nicht.
Aber auch Duncans Seele braucht Zeit zum hinterher kommen. Etwas, was mir so wichtig ist, beim Anreiten junger Pferde. Zeit, das alles zu verarbeiten. Jetzt, wo er mich mehr, besser und schneller tragen kann, waren wir zum ersten Mal an dem Punkt, wo ich nicht abgestiegen bin, weil er körperlich am Limit war (bzw weil ich verhindern wollte dass es für seinen Rücken zu viel wird), sondern weil der Kopf nicht mehr mitgemacht hat. Nach unserer bisher längsten Reitreprise war da plötzlich eben keine gute Kommunikation mehr. Der Kopf war aus und auch nach dem Absteigen war Duncan leicht überdreht. Abends war er müde. Und ich merke: die Seele muss jetzt Zeit haben, nach zu kommen. Vom Spaziergeh- zum Reitpferd ist es eben doch ein großer Unterschied. Und all die Verantwortung die er übernimmt, kostet Energie. Das alles muss jetzt erst mal sacken können.
Auch Duncan wird nicht warten, während seine Seele nach kommt. Warten ist ja nun so überhaupt nicht sein Ding. Aber bis ich wieder aufsteige, vergehen ja sowieso ein paar Tage. Und ich finde jetzt heraus, woran ich beim reiten merke, wann sein Kopf überfordert ist und ich absteigen muss, obwohl der Körper vielleicht noch könnte. Wie ich meinen Ritter kenne, wird das alles weniger lang dauern, als ich jetzt vielleicht denke, aber es dauert so lange es dauert.
Währenddessen genieße ich das Gefühl, dass meine eigene Seele mich langsam wieder einholt. Und ich denke an die eine oder andere Schülerin, die oft selbst nicht hinterher kommen, wenn ihr Pferd sich entwickelt, die gar nicht mitkriegen, wie sehr ihr Pferd sich verändert hat, weil ihre Seele in früheren Erlebnissen noch fest hängt und Zeit braucht um nach zu kommen. Vielleicht lege ich da beim Unterrichten auch nochmal mehr Augenmerk drauf.