Die Sache mit dem Besen hängt uns nach. Duncan ist sauer, auch zwei Tage später noch. Er hält sich fern von mir, begegnet mir zurückhaltend, lässt aber durchblicken, dass das nicht (nur) Angst ist, sondern durchaus auch Wut. Ich bin etwas erschrocken, so hat überhaupt noch kein Pony auf so einen kleinen Streit reagiert. Ich möchte das in Ordnung bringen und mache Freedom Based Training. Aber ich scheine etwas falsch zu machen, Duncan wird nur immer wütender. Ich versuche verschiedene Varianten, finde schließlich einen Punkt an dem ich aufhören kann und gehe nachdenklich ins Bett. Am nächsten Morgen höre ich im Radio den Rest einer Sendung. Klagezeit – ein Projekt dass die Kirchen in Leipzig sich ausgedacht haben. Und es fällt der entscheidende Satz „klagen, ohne gleich getröstet zu werden“. Ich denke: ja, darum geht es. Ich habe das zum ersten Mal nach Finlays Tod erfahren – wie schlimm es sein kann, wenn Menschen einen trösten wollen. Die Menschen um einen herum wollen einen reparieren. Manche konnten meinen Schmerz nicht ertragen und wollten ihn „wegtrösten“. Ich sollte wieder so sein wie zuvor, fröhlich und unbeschwert. Sonst ist das ja mit mir nicht auszuhalten. Aber ich konnte und wollte nicht so sein wie zuvor. Ich wollte meine Trauer gesehen wissen, wollte, dass man akzeptiert, dass ich irreparabel verändert bin dadurch und dass ich jetzt so bin wie ich jetzt bin. Ich wollte geliebt werden, so wie ich bin und nicht mehr oder weniger unterschwellig zu hören bekommen, dass ich jetzt „falsch“ bin – wo ich doch allen Grund hatte, traurig und auch wütend zu sein.
Nun also Duncan, mit seiner Wut, ein bisschen vielleicht auch Angst, auf jeden Fall große Unsicherheit, wie er mir jetzt begegnen soll. Eine große Reaktion auf ein scheinbar kleines Ereignis. Da scheint ein sehr, sehr zartes Seelchen in meinem wilden kleinen Hengst zu wohnen und ich habe noch zu lernen, wie ich damit umgehen kann. Bestimmt kommt da auch eins zum anderen: Wachstum und Pubertät, allgemein erhöhter Stresslevel wegen des Wetters. All das habe ich ihm in der gemeinsamen Arbeit überhaupt nicht angemerkt. Aber jetzt, wo etwas schiefgelaufen ist, da ist alles durcheinander gepurzelt. Und mir dämmert: ich kann das nicht mal eben schnell reparieren. Es ist nicht an mir, das zu reparieren. Mein Job ist, da zu sein und auszuhalten. Präsent zu sein, ohne Anspruch. Und zwar WIRKLICH ohne Anspruch. Denn selbst wenn ich Freedom Based Training gemacht habe, hatte ich bisher immer einen Anspruch. Ich habe immer irgendwas geübt. Und mein Pony sollte sich „gefälligst“ besser fühlen, dafür mache ich das schließlich. Hm.
Hier ist wohl meine zweite Duncan-Lektion: manchmal muss ich es aushalten wie es ist. Und trotzdem da sein, nicht weglaufen. Der Fehler, den die Menschen mit mir gemacht haben nach Finlays Tod, den habe ich jetzt mit Duncan gemacht. Weil ich ganz klar unterschätzt habe, was die Besen-Nummer mit ihm gemacht hat. Ich dachte, ich könnte hingehen und sagen „Entschuldigung, da hab ich mich im Ton vergriffen, war etwas gestresst“. Und ich dachte, er würde antworten „naja, passiert mir ja auch manchmal, passt schon“. Aber dass er in seinen Grundfesten erschüttert ist, das war mir nicht klar. Das einzige andere Mal, dass wir uns wirklich gestritten haben, war anders. Da hat er es wieder und wieder darauf angelegt. Dann haben wir gestritten, direkt danach haben wir die Situation geklärt und gut war’s. Diesmal ging alles so schnell. Er hat einen kleinen Schabernack gemacht und ich habe heftig reagiert weil ich das Gefühl hatte, es sei nötig, um zu verhindern, dass das totale Chaos ausbricht. Danach habe ich ihn damit stehenlassen – ganz bewusst, weil ich wollte, dass er mitkriegt, dass ich das doof fand. Und anscheinend war das eine viel zu harte Strafe.
Zum Glück ist ja wunderschönes Wetter. Also habe ich Zeit mit ihm verbracht im Paddock. Und beschlossen, erst dann wieder etwas mit ihm zu machen, wenn er anmeldet, dass er das möchte. Und langsam nähern wir uns wieder an. Noch vorsichtig und mit vielen Nachfragen. Und ich sinniere derweil über mein Pony, darüber, wie anders er ist als mein Finlay. Finlay hätte das alles lustig gefunden. Nach spätestens einer Woche hätte er sich einen neuen Schabernack überlegt. Und meine Wut hätte ihn prächtig amüsiert -mich wütend machen war eins seiner liebsten Hobbys. So unterschiedlich sind sie, meine Ponys. Ein Pony mit dem ich nicht streiten kann, wird für mich eine Herausforderung. Andererseits macht Duncans Harmoniebedürfnis mir Mut, dass er wirklich als Hengst unter Wallachen wird leben können. Er mag keinen Streit und so wird er hoffentlich auch keinen anzetteln, Hormone hin, Hormone her.
Und noch etwas geht mir durch den Kopf. Freedom Based Training unterstützt das Pferd darin, sich selbst zu regulieren. Selbst mit den eigenen Gefühlen und dem eigenen Stress klar zu kommen. Das ist Teil des Erwachsen-werdens. Wenn ich Duncan sagen würde: „komm, mach mal das“ würde er es sicher tun. Aber sich allein regulieren und wissen was zu tun ist, das kann er noch nicht. Da ist er eben doch noch ein Kind. Und ich glaube, nach der Besen-Geschichte war für ihn einer dieser Tage, an denen Kinder wütend gegen die Wand treten und unbedingt jemanden anbrüllen müssen. Einer dieser Tage, an denen sie gar nicht wissen, wohin mit dem ganzen Weltschmerz. Ich erinnere mich sehr gut an meine eigene Gefühlswelt früher. Und für diesen Weltschmerz gibt es keinen Trost. Keine Mutter kann den Weltschmerz wegpusten wie ein aufgeschürftes Knie. Es gilt, ihn auszuhalten, denn es gibt nichts dagegen zu tun. Was hilft, ist, wenn jemand anders ihn mit uns aushält, den Schmerz. Einfach so. Und da habe ich wieder was gelernt – von all jenen, die meinen Schmerz über Finlays Tod mit mir ausgehalten haben und jetzt von meinem verletzten, wütenden Pony.
Zwei Tage später kommt Duncan wieder zu mir. Es scheint wieder ok zu sein. Noch etwas zurückhaltender als sonst, aber er möchte gern wieder etwas unternehmen. Unsere Freiarbeit im Roundpen macht er großartig und bleibt auch danach noch bei mir. Ich darf ihn wieder anfassen und mit ihm zusammen herumstehen, alles gut.
Aber es geht ihm nicht gut, das kann ich merken. Seine Zähne nerven ihn unglaublich, so mancher Keks wird zur Herausforderung und wird hin und her geschoben bis er ihn schließlich zerbissen bekommt. Anscheinend sind nicht nur Schneidezähne im Wechsel…. In der Herde verhält er sich unstet, hat öfter mal Ärger mit Diego oder Gatsby und muss manchmal ohne Anlass irgendjemandem auf die Nerven gehen – ein paar Sekunden, bis der andere sagt, er soll es lassen, dann geht es wieder. Ich denke wieder an Elsa Sinclair: die zwei Dinge, die gegen Stress helfen sind Bewegung oder Grenzen. Bewegung ist schwierig, spazieren gehen fällt weiterhin dem Eis zum Opfer und auch im Paddock ist der Boden nicht so, dass man endlos spielen könnte. Also sucht er sich Grenzen, an denen er sich quasi die Nase stoßen kann, weil er nicht weiß, wohin mit seinem persönlichen Stress.
Ich hatte schon geahnt, dass dieses Jahr schwierig wird. Finlay ging es ganz genauso zwischen dem 2. und dem 3. Geburtstag. Erwachsenwerden ist kein Kinderspiel…. und ich bin froh, dass ich Duncan nun schon so „lange“ kenne, dass ich vor dem Einsetzen von Zahnwechsel und erster Pubertät schon den Grundcharakter meines Ponys erahnen konnte. Daran halte ich mich fest, wenn er wieder unberechenbar, wütend und maulig ist. Da müssen wir jetzt beide durch und es gibt nichts zu reparieren – nur gemeinsam auszuhalten.