Schau mal!

Ganz am Anfang, bei unserem allerersten Spaziergang, ist es zum ersten Mal passiert.

Unser erster Spaziergang.

Duncan, damals erst wenige Wochen bei mir und ein gutes Jahr alt, wies mich auf etwas hin, was ich nicht bemerkt hatte: eine Wildschweinspur. Von Elsa Sinclair habe ich gelernt, was eigentlich völlig offensichtlich sein sollte, aber in der Pferdewelt noch nicht üblich ist: Interesse zeigen an dem, was mein Pferd mir zeigen möchte. Nicht zu sagen „da ist nichts“ – das ist nämlich nicht wahr. Da ist immer was, davon bin ich überzeugt, auch wenn wir Menschen es manchmal aus rein biologischen Gründen nicht sehen, hören oder riechen können.

Seit diesem ersten „schau mal!“ von Duncan ist viel Zeit vergangen. Jetzt, in den letzten Monaten fällt mir vermehrt auf, wie er Dinge anzeigt. Ich kann ihn jetzt auch besser lesen und weiß oft bereits anhand seiner Reaktion, worum es sich handeln könnte. Als wir am Sonntag ausreiten waren, hat er mich auf ALLES hingewiesen, ich war immer zu langsam, er hat alles vor mir bemerkt. Jedes Auto von vorn oder hinten, jeder Spaziergänger, jeder Hund: Duncan hat es vor mir entdeckt. Es ist beschämend, mit so einem Pony unterwegs zu sein. Ich meine: wie blind und taub bin ich? Aber es ist auch schön, zu sehen, wie er mich mit einbezieht, wie er mir vermittelt, WAS da ist. So funktioniert Leben in der Herde: wer etwas entdeckt, sagt bescheid. Dann wird entschieden, wie damit umzugehen ist. Natürlich haben wir mit Autos und Spaziergängern kein Problem, Duncan hat keine Angst. Aber er weiß wohl schon, dass wir dann an eine Seite gehen und Platz machen. Er weiß, dass es etwas zu tun gibt. Manchmal zeigt er mir aber auch Dinge, die uns nicht direkt betreffen: ein Rind in der Ferne, einen großen Vogel im Feld oder Pferde auf einer Koppel.

Bei Hunden, so habe ich am Sonntag klar gesehen, macht er inzwischen Unterschiede zwischen solchen, die er für unbedenklich hält und solche, die er nicht ok findet – ich bin nicht sicher (und er wohl auch nicht) ob er sich im Zweifel für Kampf oder Flucht entscheiden würde. Er beobachtet diese Hunde sehr genau, an den anderen geht er ziemlich ungerührt vorbei. Dabei teilt er in der Regel meine Einschätzung über den Hund. Im Gegensatz zu ihm beziehe ich allerdings das Verhalten der Menschen mehr mit ein. Ist der Hund an der Leine, mache ich mir keine Sorgen. Duncan scheint nicht zu wissen, was die Leine bewirkt – woher auch? Dafür müsste er mehrere Begegnungen mit Hunden mit oder ohne Leine haben, die entsprechend ablaufen (Gott bewahre!). Als neulich einem Hund sogar schnell ein Maulkorb aufgesetzt wurde als wir in Sichtweite kamen, wusste ich, dass diese Menschen sich darum kümmern, dass nichts passiert. Duncan hingegen beurteilte das Verhalten von Mensch und Hund als gruselig und ich konnte das gut verstehen, denn es war offensichtlich, dass die Menschen sehr darauf bedacht waren, den Hund von den Pferden fern zu halten und der Hund sehr angespannt war.

Auch außerhalb unserer Ausritte zeigt Duncan mir so manches an. Wenn Caruso seine Schüssel auf dem Hof bekommt und die dann irgendwann leer ist und er abwandert, sehe ich das – während ich den Stall fege – an Duncan, der auf eine bestimmte Art den Kopf hebt und zu Caruso schaut.

Ob das alles daran liegt, dass ich von Anfang an auf dieses Anzeigen reagiert habe? Ich meine, wenn es immer ignoriert wird – wie die meisten Menschen es tun und wie es oft gelehrt wird – warum sollte mein Pferd mir dann noch etwas sagen? Sind Pferde wie unser Diego einfach nur so gelassen, dass sie das alles nicht interessiert, oder sind sie in Wirklichkeit verstummt angesichts des menschlichen Desinteresses? Und wie unglaubwürdig werden wir als angebliches „Leitpferd“, wenn wir all die Hinweise ignorieren, die uns gegeben werden?

Natürlich ist Duncan auch ein grundsätzlich extrovertierter Typ, dem man seine Gefühle und Gedanken viel mehr ansieht als zum Beispiel einem Diego. Aber auch Diego zeigt uns gelegentlich Dinge. Neulich saß eine Reitschülerin auf ihm und wir besprachen gerade etwas, als Diego plötzlich aufmerksam Richtung Feld schaute. Ich fragte „was ist denn da?“. Die Reitschülerin sagte reflexmäßig „nichts“. Ich wusste aber, sie hatte nicht lang genug gesucht. Sie ist es gewohnt „da ist nichts“ zu sagen. Wahrscheinlich hat sie es übernommen von Leuten, die sie unterrichtet haben. Ich hab das früher auch gemacht. Heute bin ich schlauer und ich schaute genauer hin. Da war nicht nichts, da stand ein Reh und zwar ziemlich nah an unserer Koppel. Es war halt gut getarnt, so dass vermutlich auch Diego es erst bemerkt hat, als es sich bewegte (und das in der Zeit, als er keinen Auftrag hatte, er konnte also hinschauen).

Mein absolutes Highlight was Diego angeht, sind immer noch die Steinhaufen. Diego hat eigentlich vor nichts Angst. Aber um große Steinhaufen macht er einen Bogen. Besonders im Moor, wo wir am Sonntag wieder Ausreiten waren, macht er da so manchen Schlenker und wir haben immer über ihn gelacht. Genau so lange, bis uns jemand er klärt hat, wozu diese Steinhaufen da in der Landschaft liegen: damit die Kreuzottern sich dort wärmen können.

Pferde nehmen die Welt ganz anders wahr als wir. Ihre Sinne funktionieren zwar im Grunde gleich, aber eben doch verschieden. Drehbare Ohren, ein 340 Grad-Sichtfeld, Augen, die mehr auf Bewegung reagieren und im Dunkeln viel besser sehen können, ein Geruchssinn so fein wie der eines Hundes. Wir Menschen haben da schlechte Karten. Und deswegen erscheint es mir nur natürlich, dass unsere Pferde uns auf Dinge hinweisen. Unsere Welt kann dadurch interessanter und spannender werden. Anstatt tagträumend auf meinem Pony herum zu gammeln kann ich selbst die Umwelt mehr beobachten und immer versuchen, herauszufinden, was mein Duncan gerade entdeckt hat. Wenn ich aufmerksam bin, kann ich auch mal die erste sein, die etwas sieht oder hört. In jedem Falle kann ich meinem Pony zeigen, dass mir wichtig ist, was er wahr nimmt und dass ich seine Meinung dazu ernst nehme, auch wenn ich gelegentlich anderer Meinung bin. Das wird hoffentlich wiederum dazu führen, dass mein Pony nicht so schnell allein entscheidet, sondern Rücksprache hält, falls er eine Flucht für angebracht hält.

Und letztlich ist es doch ein entscheidendes Merkmal von Freundschaft, dass ich versuche, die Welt durch die Augen meines Freunde zu sehen und seine Wahrnehmung zu verstehen, oder?

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