Drei Jahre

In unserer Nachbarschaft steht dieser Baum. Vor ein oder zwei Jahren ist er gestürzt und ich dachte, das ist sein Ende. Jetzt fängt er an, aus einem Ast, der nach oben zeigt, so eine Art neuen Stamm zu bilden. Als wir neulich an ihm vorbei gegangen sind, habe ich zu Arnulf gesagt: „Ich fühle mich ein bisschen wie dieser Baum.“

„Wir sind Überlebende, keine Superhelden“

Ich bin gestürzt und nicht wieder aufgestanden. Aber aus der neuen Lage ist etwas neues gewachsen. Es sieht skurril aus, aber es funktioniert, der Baum lebt. Wer weiß, was sein Wurzelwerk unterirdisch tut, was wir nicht sehen? Ähnlich dem was mein Unterbewusstsein, meine Seele oder wer auch immer im Hintergrund für mich getan hat, während ich lange nur im „Durchhalten“ war.

Im Gegensatz zu dem Baum sieht man es Menschen meistens nicht so direkt an, welche Verletzungen sie erlebt haben. Manche meiner Schülerinnen vertrauen mir Dinge an, die auf ihrer Seele liegen und manche dieser Geschichten sind so schlimm, dass ich mich frage, wie diese Frau ihr Leben so scheinbar normal führen kann. Ich bemühe mich, das, was meine Schülerinnen mir anvertrauen, im Kopf zu behalten, wenn ich unterrichte. Ich habe ein loses Mundwerk und mache gerne Witze – aber bei manchen mache ich manche Witze eben nicht. Die Arbeit mit Pferden führt oft direkt zu diesen Verletzungen die wir alle in mehr oder weniger großem Maß mit uns herum tragen. An der einen oder anderen Stelle kommen wir damit in Kontakt, weil die Pferde uns so fein lesen und darauf reagieren. Manchmal ahne ich beim Unterrichten, dass sich da etwas verbirgt, aber ich frage nicht nach. Es ist nicht meine Aufgabe, nachzufragen, wenn jemand es nicht erzählen möchte ist das völlig ok. Wenn jemand es erzählen möchte ist das auch völlig ok. Manche ist vielleicht auch einfach an einem Punkt, wo sie das, was da ist, gar nicht bewusst wahr nimmt – wir alle haben blinde Flecken und manches ist auch zu schmerzhaft, um es direkt anzuschauen.

Auch die Pferde tragen fast alle mehr oder weniger große Verletzungen ihrer Seele mit sich herum. Dafür müssen sie nicht verprügelt worden sein oder anderweitig sichtbar schlecht behandelt. Schon ein Stallwechsel und der Verlust der Freunde – selbst wenn er langfristig dem Wohl des Pferdes dienen mag – ist eine Verletzung der Pferdeseele.

Wir alle kommen nicht ohne solche Verletzungen durchs Leben. Der Wunsch, alles vom geliebten Kind oder Tier fern zu halten, bleibt unerfüllbar. Manche Menschen beschäftigen sich ausgiebig damit, andere schieben es zur Seite – beides kann funktionieren.

Gestern, an Finlays 3. Todestag, habe ich zum ersten Mal alles zur Seite geschoben. Ich wollte nicht wieder hinein springen in das schwarze Loch und diesmal hatte ich eine Wahl, die ich in den letzten zwei Jahren irgendwie nicht hatte. Ich habe trotzig die Nase in die Luft gereckt und ziemlich komplett ignoriert, welcher Tag ist. Und ich habe vielleicht zum ersten Mal ein Stück weit die andere Seite gefühlt, die Seite der Menschen, die sich nicht auseinandersetzen wollen und lieber alles beiseite schieben.

Mir schrieb jemand „vielleicht willst Du ja doch irgendwann über Finlays Unfall reden“. Für mich schwang da mit „Du musst doch darüber reden das ist doch wichtig“ (vielleicht war es nicht so gemeint aber ich hatte dieses Gefühl). Nein, darüber reden im Sinne von „erzählen was passiert ist“ ist nicht wichtig. Ich war in Therapie und die hat wunderbar funktioniert ohne dass meine Therapeutin mehr wusste als ihr: Finlay hatte einen tödlichen Unfall. Es war interessant für mich, dass sie lange Zeit noch nicht mal nachgefragt hat. Weil es nicht wichtig war für die Therapie. Erst in der vorletzten Stunde habe ich einen Satz dazu gesagt – nur einen. Aber es spielte keine Rolle, denn wichtig war nur, wie ich mich fühle und das – das wissen wir alle – ist oft völlig unabhängig von irgendwelchen Tatsachen.

Und so habe ich noch mehr gelernt, dass auch die Gefühle andere Menschen für mich nicht verständlich sein müssen. Dass es gilt, zu akzeptieren was der andere fühlt (was nicht heißt, dass er sich beliebig benehmen darf!). Wir müssen das nicht nachvollziehen können, warum jemand Angst hat, traurig ist, sich überfordert fühlt oder was auch immer wir vielleicht übertrieben oder unangemessen finden. Und wir brauchen auch die genauen Gründe gar nicht zu kennen, um Mitgefühl zu zeigen. Für den Betroffenen kann Nachfragen nämlich sehr schnell wie unangenehme Neugier wirken – ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. „Ich erkenne an, wie du dich fühlst, auch wenn ich nicht weiß, warum“ halte ich für einen alltagstauglichen Ansatz. Denn auch wenn uns jemand etwas erzählt: die meisten von uns sind keine Therapeuten und es ist nicht unser Job, ungebeten „helfen“ zu wollen mit „klugen“ Sprüchen oder ähnlichem. Wenn wir gute Gesprächspartner sein wollen, reicht es meines Erachtens erst mal völlig, zuzuhören und anzuerkennen, es sei denn, man bittet uns um mehr bzw andere Hilfe. Im Übrigen ist das zuhören und anerkennen ja ganz schön schwer, wenn man es mal ehrlich versucht. Kein Urteil fällen, nicht den erstbesten Kommentar raus hauen der einem in den Sinn kommt, das ist schwieriger als man denken mag.

Manchmal frage ich mich, was ich zu meinem 3 Jahre jüngeren Selbst sagen würde, einen Tag nach Finlays Tod. Ich glaube, ich würde nichts sagen. Ich würde mich selbst im Arm halten, zwischendurch einen Tee kochen, fragen ob ich etwas essen möchte und ansonsten nur zuhören. Und all jene Fragen, die ich mir ja immer noch stelle – die man sich sicher immer stellt wenn so etwas passiert – mit „ich weiß es leider auch nicht“ beantworten. Zum Glück hatte ich damals Menschen um mich herum die das für mich getan haben, dafür bin ich ewig dankbar. Vielleicht würde ich sagen „ich bin für dich da“ und „du darfst weinen und schreien so viel du willst, das ist völlig ok“ und „du musst nicht funktionieren, du darfst total neben der Spur sein und ich bleibe trotzdem bei dir“. Etwas später würde ich vielleicht mal vorsichtig nachfragen „gibt es etwas, was dir jetzt helfen würde, dich für einen Moment ein bisschen besser zu fühlen?“ aber anfangs wäre die Antwort immer die gleiche gewesen: ich will meinen Finlay zurück und nichts – gar nichts – kann irgendwas besser machen.

Diesen Zustand gemeinsam auszuhalten ist eine Herausforderung. Vielleicht können wir uns dieser Aufgabe öfter mal stellen, anstatt – wie in unserer Gesellschaft leider sehr üblich – alles schnell weg zu wischen, zu „reparieren“ oder zu übertünchen. Das ist meine Lehre aus den vergangenen drei Jahren. Und im übrigen möchte ich noch diesen schönen Text von Jules Rylan dazu teilen:

Here’s to the people whose trauma did not give them thick skin. The ones who became more sensitive and insecure, who cry more easily, who get overwhelmed at small things. I’m so tired of the narrative that trauma makes you tough and untouchable. We’re survivors, not superheroes.

(Frei übersetzt: Das hier ist an alle, deren Trauma ihnen keine dicke Haut gegeben hat. An diejenigen, die sensibler und unsicherer geworden sind, die leichter weinen und überfordert sind von kleinen Dingen. Ich bin das Märchen so leid, dass Trauma dich stärker und unverletzbar macht. Wir sind Überlebende, keine Superhelden.)

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