(Hoch)sensibel

Hochsensibel oder hochsensitiv zu sein ist im Moment ein bisschen „in“. Wer noch nichts davon gehört hat: es gibt die Theorie dass 15-20% der Menschen Reize stärker wahrnehmen als der Rest. Ob es dafür eine „Diagnose“ und einen Stempel braucht, weiß ich nicht. Wir wissen doch wohl alle, dass Menschen unterschiedlich auf Reize reagieren. Reizverarbeitung ist individuell und während der eine gar nicht genug Menschen und bunte Lichter um sich herum haben kann, ist der andere lieber allein zu hause und genießt die Stille. Und dann kommt es natürlich auf die Art des Reizes an. Mein Mann stört sich unwahrscheinlich daran, wenn das Bild schief hängt, für mich hingegen ist das kein Problem. Aber wehe etwas ist zu laut oder Arnulf vergisst, die Werbung im Fernsehen stumm zu schalten, das kann ich nicht aushalten.

Und so geht es den Ponys logischerweise nicht anders. „It takes all sorts of people to make a world“ (frei übersetzt: es braucht unterschiedliche Arten von Menschen um eine Welt zu erschaffen). Und das gleiche gilt für die Pferdeherde: das eine Pferd, das besonders ängstlich und vorsichtig ist, hat die Umwelt immer gut im Blick und sieht Gefahren als erstes. Es kann dann die ganze Herde warnen. Das mutige Pferd, das gerne neue Gebiete erforscht, kann für die Herde neue Weidegründe finden. Ein drittes Pferd, das besonders sozial ist, hält die Herde zusammen, schlichtet Streit und erzieht die Jungtiere. Ein weiteres Pferd, das besonders stark und etwas aggressiv ist, wird die Herde nach außen verteidigen. Nur wenn sie alle zusammenarbeiten werden sie ihr bestmögliches Leben führen können. Seit ich es so betrachte, kann ich sowohl Pferde als auch Menschen viel mehr wertschätzen für das, was sie von Natur aus sind. Das eine ist nicht besser als das andere, wenn jedes seinen Platz gut einnimmt. Macht man natürlich das gelassenste, angstfreieste Pferd zum Aufpasser und trägt dem ängstlichen die Erschließung neuer Weidegründe auf, wird das vielleicht nicht so gut ausgehen.

Auch mein kleiner Ritter hat seine ganz eigene Art von Sensibilität. Und nach Finlay – dem absoluten Stoiker, den so gut wie nichts aus der Ruhe bringen konnte – ist es für mich interessant zu sehen, wie Duncan seine Sensibilität zum Ausdruck bringt. Zum Beispiel bei der Wahl des Kopfstücks, wo er ganz klar anzeigt, welches ihm behagt und welches nicht. Ein Großteil davon hat mit seiner Frisur zu tun, glaube ich. Er hasst es, wenn seine Mähne nicht richtig liegt und wenn ein Barthärchen eingeklemmt wird, hat er sehr schlechte Laune. Will ich seinen Hals unter der Mähne bürsten, muss ich sie festhalten. Wenn ich die Mähne nur auf die „falsche“ Halsseite lege, wird sie sofort zurück geschüttelt. Nur an einem Tag hat er nach dem Schlafen seine Mähne zottelig liegen lassen: als er Kolik hatte. Ich weiß also jetzt: wenn die Mähne nicht liegt, ist das Pony krank.

Dass er sich aber beim Spielen das Zahnfleisch – wieder mal – verletzt hat, scheint hingegen völlig egal zu sein. Wobei: vielleicht stimmt das so nicht. Denn solche kleine Ratscher hat er nur, wenn er gerade mitten im Pubertätsschub ist. Oder hat er nur überschüssige Energie? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist er unausgeglichen. Wenn er in sich ruht und seine Welt in Ordnung ist, kommt er auch aus dem wildesten Spiel ohne Ratscher raus.

Pferde (können) lernen, die Sensibilität des anderen einzuschätzen und zu berücksichtigen. Mein eindrucksvollstes Beispiel dafür waren unsere beiden Shettys. Früher hatten wir unsere Stute „Märchen“. Sie war eins der dickhäutigsten Ponys die mir je begegnet sind. Manchmal hatten wir den Eindruck, wenn eine Bremse auf ihr landet und versucht zu beißen, stellt sie schnell fest, dass sie da nicht durch kommt und unverrichteter Dinge wieder weg fliegen muss. Märchen konnte sich an unserer rauesten Steinwand genüsslich kratzen und hatte nachher noch nicht mal ihr Fell abgewetzt – anderen hätte das Fleisch in Fetzen vom Leib gehangen.

Dann zog Caruso bei uns ein. Und Caruso war sofort in Märchen verliebt. Leider hat sie diese Liebe lange nicht erwidert, aber schließlich hatte er doch ihr Herz erobert. Und dann wollten sie Fellkraulen machen. Nun ist Caruso aber ein wahnsinnig empfindliches Shetty. Seine Haut ist unfassbar sensibel. Märchen kam also und kraulte ihn nach Märchen-Art – so wie SIE es gern gehabt hätte dass man sie krault. Caruso ist sofort weg gerannt – viel zu doll! Erst dachte ich das klappt nie, aber nach ein paar Monaten hatten die beiden es raus: Caruso biss herzhaft in Märchen hinein und kraulte sie durch wie sie es mochte während Märchen nur zart mit der Oberlippe an ihm herum schubberte so wie es ihm angenehm war. Ich war sehr beeindruckt, dass die beiden das so hinbekommen hatten und bin seitdem einmal mehr überzeugt, dass Pferde lernen können, was Menschen weh tut und was nicht.

Auch wenn ich Duncan und Merlin spielen sehe, kann ich das beobachten. Mein kleiner Hengst, der normalerweise beim Spielen aufs Ganze geht, spielt mit dem uralten Merlin viel ruhiger und sorgt dafür, dass auch Merlin Spaß an dem Spiel hat. Wenn Merlin dann genug hat, akzeptiert Duncan das klaglos und sucht sich einen anderen Partner, mit dem er dann auch ordentlich Gas geben kann.

Wir müssen über Sensibilität nicht diskutieren. Wir müssen den anderen nicht fragen warum ihn das so stört (er wird es eh nicht erklären können). Wenn wir wissen, WAS den anderen stört und darauf Rücksicht nehmen, reicht das völlig aus. Die Ponys sagen nicht „stell dich nicht so an“ oder „was hast du denn schon wieder“. Sie akzeptieren die Empfindungen des anderen und nehmen Rücksicht darauf. Ich glaube, davon können wir eine Menge lernen.

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