Viele Pferdetrainer verwenden den Begriff des „Beziehungskontos“. Ein einfaches Bild, um zu erklären, warum unsere Pferde manchmal viel für uns machen und aushalten und manchmal nicht. Die Idee ist, dass wir ein Beziehungskonto haben, auf das wir einzahlen, wann immer das Pferd sich mit uns wohl fühlt und wir ihm gut tun. So bildet sich nach und nach ein Guthaben. Wenn wir etwas tun, was dem Pferd nicht gefällt, verbrauchen wir etwa Guthaben, wir heben etwas von unserem Konto ab.
Manchmal lässt sich das nicht vermeiden und ich habe wahrscheinlich in der Nacht von Sonntag auf Montag mein gesamtes Guthaben aufgebraucht. Wenn ich Pech habe bin ich jetzt in den roten Zahlen – da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Andererseits habe ich gesehen, wie hoch mein Kontostand vorher war……
Es ist Sonntag. Duncan schläft lang und sieht danach sehr zerzaust aus. Die komplette Mähne liegt auf der falschen Seite – ein Zustand den er normalerweise unhaltbar findet und sofort durch energisches Schütteln behebt. Aber diesmal nicht. Ich finde es lustig und mache Fotos, denke über einen Tagebucheintrag nach. Aber ich wundere mich auch. Naja, nach einer Nacht auf der Weide und bei dem warmen Wetter ist das ja auch irgendwie normal dass die Ponys schlapp sind.
Später legt Duncan sich wieder hin. Aber nur kurz. Noch etwas später liegt er schon wieder. Ich frage mich ob er einen Infekt hat und messe Fieber, aber da ist nix los. Er hat Appetit und wirkt gut gelaunt. Na dann.
Um 17 Uhr legt er sich wieder hin. Steht wieder auf, legt sich wieder hin. Wälzt sich. Mein ungutes Bauchgefühl, das sich über den Tag immer mehr aufgebaut hat, wird bestätigt: er hat Kolik.
Wir geben ihm Colosan und fangen an mit ihm zu laufen. Er wirkt nicht sonderlich schmerzhaft, ich vermute eine Verstopfung. Er zahnt so doll im Moment, wahrscheinlich hat er das harte Gras nicht gut genug gekaut und bewegt haben sich die Ponys die letzten Tage so gut wie gar nicht, wegen des Wetters. Sie haben sich im Stall verkrochen auf der Flucht vor den Insekten.
Nach einer Stunde – für mich immer das Maß der Dinge bei milden Koliken – halftern wir ihn ab. Er legt sich prompt wieder hin. Also rufe ich den Tierarzt. Koliken sind gefährlich und schwer einzuschätzen – Panik steigt in mir auf. Während wir auf die Tierärztin warten, äppelt Duncan. Pferdeäppel sind ja sowas nerviges. Überall liegen sie herum, machen wahnsinnig viel Arbeit und Dreck. Aber wenn sie nicht kommen wollen, ist plötzlich Holland in Not. Und wenn sie dann doch kommen, kann man sich wie ein Irrer darüber freuen.
Die Tierärztin kennen wir nicht – Notdienst. Aber sie ist wunderbar sympathisch und ruhig, fragt genau nach, hört genau zu. Sie hört Duncan ab, dann möchte sie rektal untersuchen. Auf der langen Liste an Dingen, die Duncan noch nie erlebt hat, stehen (zum Glück) auch unangenehme Tierarztbesuche. Das schlimmste was bisher passiert ist, waren ein paar Impfungen, die er mit Fassung getragen hat. Wird er die Tierärztin ran lassen? Ich frage ob ich mit etwas Futter belohnen darf und sie stimmt zu. Duncan lässt sich die Untersuchung gut gefallen und ich bin schon mal sehr stolz. Das Ergebnis ist eindeutig: Verstopfung. Keine Darmverdrehung oder Verlagerung. Das sind erst mal gute Nachrichten. Duncan bekommt Schmerzmittel und entkrampfendes Buscopan gespritzt. Beim spritzen wird klar, dass das Wort „warte“ ihn wirklich gut dazu bringt, still zu halten. Ich darf noch einmal mit Futter belohnen. Die schlechte Nachricht folgt auf dem Fuße: der Kot ist schon angeschoppt, Duncan muss Paraffinöl über eine Nasenschlundsonde bekommen. Das ist natürlich noch deutlich schlimmer als rektale Untersuchung und ich kann es nicht mit Futter belohnen…. Die Tierärztin sagt, wir versuchen es ohne Sedierung. Sie erklärt uns genau was zu tun ist. Wir stellen Duncan in die Ecke, Arnulf und ich halten ihn rechts und links am Halfter. Die Tierärztin rückt mit dem Schlauch an. Duncan ist natürlich nicht begeistert, aber ich sage „warte“ und er reißt sich sehr zusammen, hält so gut still wie er kann so dass die Sonde gut eingeführt werden kann. Danach ist er ruhig und lässt sich das Öl eingeben. Er steht stockstill, den Hintern schräg in die Stallecke gepresst und rührt sich nicht vom Fleck. Ich rede mit ihm, kraule ihn am Widerrist und frage mich – wie immer in solchen Mometen, ob das meinem Pony eigentlich wirklich hilft.
Schließlich ist es geschafft und die Sonde muss wieder gezogen werden, ein kurzer unangenehmer Moment, wieder hält Duncan so gut still, wie er kann. Die Tierärztin ist begeistert und ich bin unglaublich stolz auf meinen tapferen Ritter. Sie fährt vom Hof mit einem Haufen Informationen, was wir tun sollen und ich verabschiede sie mit meinem „Tierarzt-Gruß“: „Ich hoffe wir sehen uns nicht wieder.“ Tierärzte verstehen das. Ich bin erst mal unglaublich erleichtert und unfassbar stolz. Dann beginnt die lange Nacht.
Der beste Freund ist jetzt mein Timer im Smartphone. Alle 2-3 Stunden soll Duncan „Heucobs-Suppe“ bekommen, ganz wenige Cobs, ganz viel Wasser. Außerdem muss er bewegt werden. Ich versuche, das Maß der Dinge zu treffen. Bewegen kann ich ihn jetzt nur in unserer kleinen Halle, immer im Kreis. Schritt, Trab, Schritt. Auch hier kommt der Timer zum Einsatz, damit ich nicht zu kurze Trab-Reprisen mache. Dazwischen Belohnungs-Pausen in denen ich ihn kraule, Futter darf er ja nicht haben. Er wird zunehmend missmutig und genervt, macht aber mit. Die Schmerzen kommen nicht wieder, alles scheint überstanden.
Am nächsten Tag füttern wir weiter vorsichtig Heucobs. Mittags legt Duncan sich schlafen. So ganz ruhig wie ich ihn gern hätte liegt er dabei nicht. Wir gehen mit ihm spazieren. Dann hole ich nochmal eine Tierärztin zur Kontrolle. Sie sagt, es ist alles gut. Ob das wirklich stimmt? Wir besprechen, dass er zwei Stunden auf die Weide darf – ein fataler Fehler…..
Abends nimmt das Unheil seinen Lauf. Duncan mag nur noch liegen. Wir fahren in die Klinik. Im Dunkeln kommen wir dort an. Ich muss mein Pferd abgeben – Corona-Verordnung. Ich sehe, wie die Tierärztin meinen geliebten Ritter durch die Tür führt, durch die mein Finlay als letztes gegangen ist. In dem Raum, der dahinter liegt, ist mein Finlay gestorben. Dort musste ich ihn liegen lassen und mit leerem Anhänger nach hause fahren.
Aber manchmal hat man eben auch Glück.Seit gestern ist Duncan wieder zu hause – putzmunter und gesund. Er hatte sich nur an dem Gras überfressen. Normalerweise ist er ein besonnener Fresser und kaut sein Futter gut. Aber nach der Kolik war er wohl so ausgehungert, dass er sich ganz anders verhalten hat. Ich habe wieder etwas gelernt. Ich lerne aber auch, wieder noch mehr auf mein Bauchgefühl zu hören: wenn ich denke, der hat was, dann hat der was. Völlig egal, ob das diagnostizierbar ist oder nicht. Und wenn ich denke er hat Bauchweh, dann wird er kontrolliert gefüttert, auch wenn ein Tierarzt mir das ok für mehr gibt.
Jetzt werden wir sehen, welche seelischen Spuren das alles hinterlässt. Bisher wirkt Duncan genauso wie immer. Auf meine bange Nachfrage in der Klinik, wie er sich benommen hat, bekam ich von allen Beteiligten zu hören, für einen 3jährigen Hengst wäre das total super. Das beruhigt mich, denn man kann so viel üben wie man will – wenn man das Pony aus der Hand geben muss, kann man eben keinen Einfluss mehr nehmen.
Jetzt werde ich ihn natürlich noch eine Weile mit Argusaugen beobachten. Aber gestern Abend, als ich ihn zu hause gesehen habe, war mein Bauch wieder ruhig und ich konnte fühlen, dass Duncan ok ist. Möge es wahr sein…. Wenn dann wieder alles seinen Gang geht, werde ich den „Kontostand“ checken, dann wird sich ja herausstellen, wie es um unsere Beziehung bestellt ist und was ich tun kann um mein Guthaben wieder aufzubauen.