Interpretation

Neulich haben wir den Film „Robot& Frank“ gesehen. Arnulf und ich zum dritten Mal, meine Eltern und meine Schwester zum ersten Mal. Und wenn 5 Personen den selben Film sehen, dann kann man danach erleben, was für unterschiedliche Versionen dieses Films das waren, die wir da gesehen haben. Allein die Handlung ist bei diesem Film im ersten Anlauf nicht ganz leicht in allen Details zu erfassen. Und dann die Frage der Perspektive, der Präferenzen wonach man am meisten schaut. Der Film lässt etwas Spielraum bei der Frage was eigentlich „wahr“ ist. Da es sich bei der Hauptperson um einen älteren Mann mit Demenz handelt, der je nach Situation mehr oder weniger gut in der Welt orientiert ist, finde ich es sehr geschickt von den Filmemachern, dass auch der Zuschauer gelegentlich die Orientierung verlieren kann und dass an manchen Stellen nicht so ganz klar ist, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion verläuft. Allerdings war mir diese Möglichkeit gar nicht aufgefallen, bis meine Mutter diese Frage aufwarf. Für mich war das alles „wahr“ gewesen, aber das muss nicht so gemeint gewesen sein. Meine Schwester hingegen hatte ganz andere Fragen an den Film und meinem Vater sind wiederum Zusammenhänge aufgefallen, die ich nicht so gesehen hatte.

So viele Möglichkeiten. Und ungefähr so viele Möglichkeiten haben wir auch immer, wenn wir „Äußerungen“ unseres Pferdes interpretieren wollen. Hat es gerade den Kopf geschüttelt, weil es unwillig ist, oder war da wohl nur eine Fliege? Dass es uns eben auf den Fuß gelatscht ist, war das Absicht oder Tollpatschigkeit? Und dieser Nasenstüber, war der freundlich gemeint? Und warum möchte es heute nicht so schnell laufen wie sonst? Ist es das warme Wetter, die angefressene Graswampe oder ist eben doch etwas ernsteres der Grund?

Neulich als wir spazieren waren, passierte etwas sehr interessantes. Arnulf hatte keine Lust mehr zu laufen und suchte sich eine Bank, um seinen großen Diego zu erklimmen. Duncan und ich überholten die beiden, während Arnulf Diego bat, an der Bank einzuparken. Einige Meter weiter stand eine identische Bank. Und plötzlich ging Duncan zu der Bank und fing an, sie mit der Nase zu berühren. Nicht das Gras am Boden war interessant, nur die Bank. Ich stutzte. Dann dachte ich „das könnte eine Aufforderung an mich sein, oder?“ ich kletterte auf die Bank und sofort stellte Duncan sich genau so hin, dass ich aufsteigen könnte. Und da war er: der Moment auf den ich warte. Der allererste Moment in dem mein Gefühl sagt: ich könnte jetzt aufsteigen. Hab ich natürlich nicht getan. Ich habe meinen Arm von oben um Duncan gelegt und ihm gesagt wie lieb das Angebot ist. Dann bin ich von der Bank runter geklettert und wir sind weiter gegangen. Ich habe meinen Arm über Duncans Rücken gelegt und wir sind eine lange Strecke so gegangen. Ich habe auch zum ersten Mal den Strick über seinen Rücken gelegt und nur das Ende in der Hand gehalten als letzte Sicherheit. Es war ein Gefühl großer Vertrautheit und auch im Nachhinein bin ich mir sicher: ich hätte an der Bank aufsteigen können.

Seit das passiert ist, frage ich mich, ob es wohl wirklich so gemeint war. Habe ich etwas gesehen, was ich unbedingt sehen wollte? Oder ist das wirklich so passiert? Hat Duncan einfach nachgemacht, was er nun schon so oft bei Arnulf und Diego gesehen hat (und auch bei Merlin und mir)? Hat er beschlossen, dass er jetzt groß genug ist und das auch kann? Hat er eine Ahnung von den Konsequenzen dieses Angebots? Einiges an Vorübungen haben wir ja schon gemacht. Kekse gab es dafür nur bei einer einzigen Gelegenheit. Aber Diego und Merlin bekommen meistens Kekse fürs Aufsteigen auf dem Reitplatz und Duncan hat das schon oft gesehen.

Hat er wirklich, so wie ich es „gehört“ habe, zu mir gesagt „na los, steig auf, was die zwei können, können wir doch auch!“ oder steckte am Ende etwas ganz anderes dahinter?

Weil die Gefahr eines Missverständnisses besteht, bin ich froh, dass ich nicht das erste Angebot annehmen „muss“. Ich kann warten. Wird er es wieder anbieten? Wenn eine günstigere Situation kommt in der er mich wieder „einlädt“, lege ich ihm mal das Bein auf den Rücken. Und noch etwas später, einige Einladungen weiter, werde ich aufsteigen und direkt wieder absteigen. Und so nähern wir uns der Wahrheit – seiner Wahrheit. Ich kann ihn nochmal und nochmal und nochmal fragen: „war das eine Einladung zum Aufsteigen?“ und wenn es eine war: Wozu genau wurde ich eingeladen? Aufsteigen, Keks geben? Oder Aufsteigen, wieder absteigen, Keks geben? Oder Aufsteigen, bisschen kraulen? Oder möchte er gleich los laufen, mit mir die Welt erkunden ohne die Limitierung durch meiner langsamen Beine?

Es besteht viel Interpretationspielraum in der einen Situation die wir nun erlebt haben. Aber je öfter wir solche Situationen haben, desto sicherer kann ich mir werden, was wie gemeint ist. Und das tolle ist: so wird das erste Aufsteigen ein schönes Erlebnis für uns beide, weil wir vorher darüber gesprochen haben, wer was wie meint. Wir können uns orientieren in der Welt des anderen.

Anders als bei einem Film, der manche Fragen auch beim 100. Ansehen offen lässt, kann ich mit meinem Pferd in Dialog treten. Und nach und nach erfahren, was wie gemeint ist. Und wann und manchmal auch, warum. Voraussetzung ist allerdings, dass ich bereit bin, meine Interpretation dessen was zuvor passiert ist, zu korrigieren, wenn sich herausstellen sollte, dass sie falsch war. Die Voraussetzung dafür ist wiederum, dass mir völlig klar sein muss dass es erst mal nur eine Interpretation ist, keine Wahrheit.

Und trotzdem freue ich mich wie Bolle über dieses Erlebnis, denn was immer es war: es war etwas gutes und wir sind wieder ein Stück näher zusammen gerückt. Und vielleicht war es ja wirklich die Einladung zum Aufsteigen und somit ein riesengroßes, ritterliches Geschenk. Übrigens passend genau an meinem Geburtstag…..

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