Als Finlay so ungefähr in dem Alter war in dem Duncan jetzt ist, kam ich eines Tages zu einer neuen Kundin. Sie stellte mir ihr Pferd vor mit dem Namen „Zwerg“ – ein über 180cm großer, 23 Jahre alter Warmblüter. Nein, natürlich hieß das Pferd nicht wirklich Zwerg, aber sie hatte ihn als Jährling gekauft und der Spitzname war hängen geblieben.
Als ich von dem Termin nach hause kam, sagte ich zu Arnulf „Finlay heißt ab heute Finlay“.
Denn hier war etwas passiert, was ich schon öfter beobachten konnte. Die Menschen verpassen, dass ihre Pferde erwachsen werden. Manche schaffen das ja auch bei ihren Kindern, aber die Kinder wehren sich dann oft und weisen die Erwachsenen darauf hin. Die Pferde wehren sich nicht. Denn „der Zwerg“ zu sein bedeutet für die Pferde oft so etwas wie Narrenfreiheit. Nicht so viel arbeiten müssen, nicht so strenge Regeln. Das könnte fast schön sein, wenn es nicht gefährlich wäre sowohl für die Menschen, denen diese Pferde auf die Füße treten, als auch für die Pferde, die im Zweifel nicht zuhören wenn man ihnen an der Straße sagt, was sie tun sollen wenn der LKW kommt. Außerdem führt es meist dazu, dass diese Pferde mehr Stress haben als ihnen guttut, weil sie keine klaren Anweisungen bekommen und dadurch irgendwie auch nie Ruhe einkehrt. Mit diesen Pferden gibt es oft ein ewiges Tänzchen, sie stehen nicht still, haben keine Geduld und können sich nicht konzentrieren. Wenn es dann auch noch keine Herde gibt, die dem heranwachsenden Tier ein paar Grenzen setzt und gleichzeitig ermöglicht, dass es sich mal ausprobiert und seine Erfahrungen macht, dann hat man einen ewig unausgelasteten Zappelphillip mit hohem Stresslevel der sich in seiner eigenen Haut nicht wohlfühlt.
Dabei haben wir doch alle selbst diese Entwicklung hinter uns. Wir waren ja auch alle mal Kinder. Und dann sind wir älter geworden. Was für ein großer Unterschied zwischen 5jährigen und 10jährigen, ganz zu schweigen von 15jährigen! Und wie schrecklich finden 10jährige es, wenn sie wie 5jährige behandelt werden!
Nun macht sich all dies natürlich nicht an einem Spitznamen fest. Aber der Spitzname, wenn er sich auf Alter oder Größe bezieht, birgt die Gefahr, dass wir vergessen, wie erwachsen unser Pferd mittlerweile geworden ist. Vor allem, wenn es das jüngste Pferd im Stall ist. So sind es dann plötzlich mit 7 oder 8 Jahren immer noch „die Kleinen“ und manchmal verpassen Besitzer komplett, dass der „Kleine“ eigentlich mal etwas Grundbenehmen haben könnte, wie man es von anderen erwachsenen Pferden halt auch erwartet.
Deswegen habe ich damals meinen Finlay mit Argusaugen beobachtet um zu sehen, wie erwachsen er tatsächlich schon ist und was ich an Benehmen erwarten kann. Und ich erinnere mich gut an eine Situation, als er 1,5 Jahre alt war. Als wir damals zur Hengstweide kamen wo er stand und ich sah in von weitem sagte ich zu Arnulf „der ist anders als letzte Woche“. Es war so ein Gefühl. Er hatte damals einen Sprung gemacht von „ich hab mich einfach nicht im Griff und hasche nach allem was mir vors Mäulchen kommt“ zu „ich hasche mal nach Dir und schaue was passiert“. Es wirkte so viel bewusster, gezielter. Genau wie es bei Kindern vorkommt, die etwas „ausfressen“ und einen dann genau anschauen um zu sehen wie man reagiert. Das war der deutlichste Sprung für mich, den ich an einem Tag festmachen konnte.
Bei Duncan waren in letzter Zeit ein paar solche Momente, in denen ich merkte: er ist anders geworden. Ich kann es aber noch nicht so gut in Worte fassen. Da er von Anfang an sehr erwachsen war und nie wirklich „Baby-Verhalten“ gezeigt hat, zeigt sich das an anderen Stellen. Bei ihm fühlt es sich eher an als würde er anfangen, seine Kraft zu spüren. Wenn ich jetzt sage „er wird mutiger“ klingt das natürlich blöd, weil er ja noch nie ängstlich war. Aber ich glaube er traut sich mehr zu. Er begegnet sowohl mir als auch den anderen Ponys mehr auf Augenhöhe. Er weiß, wo er steht.
Und es wirkt auf mich als hätte er Lust, seinen „neuen Körper“ auszuprobieren. Er ist kräftiger geworden und ich glaube er fühlt das und will seine PS „auf die Straße“ bringen. Als hätte er einen Zaubertrank getrunken und würde jetzt staunen über seine eigene Kraft und nur aus Spaß riesige Steine aufheben und rufen „schaut her was ich kann!“. Und so wie er sich körperlich fühlt, fühlt er sich (natürlich) auch seelisch.
Wenn ich mich neben ihn stelle, meinen Arm über seinen Rücken lege und mich etwas anlehne, dann stabilisiert er sich – und das ist ja genau das was ich möchte. Bisher hatte es ihn immer etwas gestört und er schien nicht recht zu wissen was er tun soll, jetzt hat er den richtigen Weg gefunden. Neulich konnte ich meine beiden Arme und meinen Oberkörper kurz über seinen Rücken legen und mich „tragen lassen“ und er hat mich „getragen“. Das ist ein ganz besonderes Gefühl was ich bei Finlay schon immer sehr genossen habe. Das Gefühl, dass dieses Tier so stark ist und so stabil in sich, dass ich mein Gewicht abgeben kann. Und das ohne dass mein Pony sich „belastet“ fühlt, sondern es kann ihm sogar Spaß machen. Bei Finlay bin ich später, als er schon etwas älter war oft im Paddock kurz auf seinen Rücken gesprungen, habe mich mit dem Oberkörper über seinen Hals gelegt und ihn ordentlich durchgekratzt. Das fand er toll. Auch auf dem Reitplatz haben wir das gemacht, lange bevor es mit reiten los ging, während der Bodenarbeit immer in der Pause. Und nun kann ich mir zum ersten Mal vorstellen, dass es bei Duncan auch mal so sein wird. Bisher erschien er mir immer so zart und schmal, dass ich keine Idee davon hatte, wie er mich jemals tragen können soll. Natürlich WEIß ich dass er noch wächst. Aber wissen und fühlen, das sind zwei Paar Schuhe.
All diese Dinge plus die Tatsache, dass er beim Spazierengehen in letzter Zeit recht nervig war mit ständigem Haschen oder am Strick ziehen, hat mich nun veranlasst, meinen Umgang mit ihm zu verändern.
Als wir am Sonntag in den Wald gefahren sind für einen wunderschönen Herbstspaziergang, da habe ich eine neue Verhaltensweise ausprobiert. Denn jetzt sind wir ein Jahr lang zusammen unterwegs und das heißt: er kennt doch die Regeln. Er kann mir nicht erzählen, dass er nicht weiß, dass er nicht am Strick ziehen soll, oder dass er nicht weiß, dass er nicht im Gehen Gras fressen soll, dass er nicht weiß, dass die Tatsache, dass ich in die Tasche greife, keine Bedeutung hat und dass, wenn er dann meint, mit seinen Zähnen nach mir haschen zu müssen, der Keks eben in meiner Hand bleibt, bis er sich wieder anständig benimmt. All diese Dinge weiß er doch. Und dann kann er sie jetzt auch einfach mal machen. Und ich finde, er braucht auch gar nicht mehr ständig Kekse nur weil er etwas macht, was er doch längst kann. Also bin ich losmarschiert und habe beschlossen: heute entscheide ich. Und das meine ich in zweierlei Art: ich entscheide das Tempo (sonst war ich oft froh wenn er mal langsamer war und habe ihn bummeln lassen) und ich treffe einen Haufen Entscheidungen bei denen ich sonst oft zu zögerlich war. „Darf ich dieses Grün da am Wegesrand vernaschen?“ Nein. „Darf ich die Seite wechseln?“ manchmal habe ich mit ja geantwortet, manchmal mit nein. Wie es mir eben gerade in den Sinn kam. „darf ich antraben?“ Ja, aber wenn der Strick zu Ende ist und du nicht rechtzeitig wieder durchparierst gibt es Ärger. „Darf ich bisschen drängeln?“ nein.
Ich habe nicht ein einziges Mal überlegt „soll ich das jetzt machen, wie reagiere ich darauf, wie wird er sich damit fühlen“ Ich habe Entscheidungen getroffen am laufenden Band und Duncan hat sich wohl gefühlt. Er war entspannt unterwegs und lief 99% der Zeit am langen Strick mit großem Abstand neben mir her. Kekse gab es wenige, Rüffel aber auch, die dafür sehr deutlich und gezielt. Und es war der schönste Spaziergang seit langem. Und ich merke: nicht mehr so vorsichtig sein. Ich stelle es mir vor wie die nette Tante, die man ja echt gern mag, aber die irgendwie so ein bisschen „zu nett“ ist. Die einen ein bisschen nervt, die man nur so halb ernst nimmt. Aber jetzt, mein Ritterchen, jetzt hat die nette Tante das begriffen. Und wir beide steigen auf auf „Level 2“ und starten gemeinsam in deinen neuen Lebensabschnitt.
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