Ich liebe den Herbst. Er ist meine absolute Lieblings-Jahreszeit. Während um mich herum viele Leute traurig sind, dass die warmen Sommertage vergangen sind, atme ich auf und fühle mich wohler. Ja, es ist kalt, ja ich friere auch oft. Aber ich mag lieber frieren als schwitzen und ich mag vor allem die Stille des Herbstes. Wenn die Vögel leiser werden, wenn die Sonne nicht mehr so direkt von oben kommt, wenn Nebel über den Wiesen liegt ist alles irgendwie gedämpfter und ruhiger und ich selbst komme besser zur Ruhe. Dann kommen die Stürme, die den Kontrast zwischen dem gemütlichen Leben in der Wohnung mit heißem Tee und Sofa und dem draußen sein so groß machen, auch das liebe ich sehr.
Der Herbst ist für mich auch eine Zeit, in der ich viel meinen Gedanken nachhänge. Während ich draußen Weidezäune abbaue, den Paddockzaun repariere und freischneide, Eicheln aufharke und oft auch den einen oder anderen „Aufräumanfall“ bekomme, geht mir alles durch den Kopf was so passiert ist im vergangenen Jahr. Letztes Jahr war diese Zeit von Trauer und Schmerz geprägt und von wahnsinnig viel extra Arbeit und Aufwand, von körperlicher Krankheit und seelischer Ver-rücktheit. Dieses Jahr fühlt es sich wieder so an wie es soll. Und während „da draußen“ Corona sein Unwesen treibt, ist hier alles wie immer.
Nachdem es gestern sehr windig war, sind die Ponys heute extra-still. Duncan hat einen sehr ausgiebigen Mittagsschlaf gehalten, bewacht von den anderen Ponys, die dösend daneben standen. Man wächst im Schlaf, habe ich gelernt. Also vielleicht ist mein Pony etwas gewachsen in der letzten Stunde. Ich hoffe es, denn er muss schon noch ein Stückchen schaffen um groß und kräftig genug zu werden, mich irgendwann tragen zu können. Aber ich finde, etwas Breite hat er schon gewonnen in den letzten Wochen.
Wachsen, das ist ja so eine Sache. Spätestens seit Finlays Tod stehe ich auf Kriegsfuß mit dem allerseits propagierten „persönlichen Wachstum“. Ein Selbstoptimierungs-Wahn – so scheint mir – hat von der kapitalistischen Gesellschaft Besitz ergriffen. Er zieht sich nicht mehr nur durchs geschäftliche, sondern hat längst Einzug gehalten in unser Privatleben. Wir sollen unsere Ernährung optimieren, unsere sportlichen Betätigungen, sogar unseren Schlaf. Unsere Wohnung soll entrümpelt sein, unser Alltag strukturiert. Weil – ja warum eigentlich? Was genau versprechen wir uns davon?
Auch in der Pferdewelt geht es nicht anders zu. Und sei es nur der neue Striegel, der den Fellwechsel noch leichter machen soll, oder das neue Mineralfutter, das dem Pferd noch mehr Gesundheit, mehr Leistungsfähigkeit oder bessere Hufe bescheren soll. Nicht wenige Pferdebesitzer rennen wie besessen von einem Stall zum nächsten und suchen das Optimum für ihr Pferd, ohne jemals wirklich anzukommen. Andere besuchen einen Kurs nach dem anderen, um noch besser zu werden, ihrem Pferd noch mehr Abwechslung zu bieten oder manchmal auch nur um dabei gewesen zu sein. Schon lange empfinde ich unsere Gesellschaft als eine Ansammlung getriebener Menschen und seit Finlays Tod hat sich das noch verstärkt. In der Trauer empfinden viele Menschen, dass die Zeit still steht und so war es auch bei mir. Lange hatte ich das Gefühl, die Zeit hat ihren natürlichen Gang verloren. Von außen zu beobachten, wie schnell die Zeit für andere Menschen läuft, war eine sehr skurrile Erfahrung.
Gegen die Getriebenheit und das Gehetze der Menschen hat sich wiederum eine ganze Industrie gestellt, die uns Achtsamkeit verkauft, Yoga und Meditation. Und doch bewegen sich auch diese Angebote in demselben Uhrwerk. Dass ich mich abhetze, um rechtzeitig zu meiner Yogastunde zu kommen, scheint mir doch irgendwie der Gipfel der Farce.
Als mein kleiner Duncan heute gemütlich im Paddock lag und schlief – einfach so, weil er nun gerade JETZT müde war – habe ich mich in seine Nähe gehockt und Zeit mit ihm verbracht. Um uns herum standen die anderen Ponys und ich habe mich so gut es ging eingefügt in das, was sie getan haben – mal schauen, mal dösen, mal die Position wechseln. Duncan blieb seelenruhig liegen. Ich konnte mir nicht verkneifen, das Handy zu zücken und Fotos zu machen. Und natürlich auf die Uhr zu schauen: wann muss ich los zu meinem nächsten Termin? Aber ich hatte Glück und konnte eine ganze Weile bei meinem schlummernden Pony bleiben. Und wieder überkam mich die Sehnsucht nach einem einfacheren, überschaubareren Leben (obwohl mein Leben im Vergleich zu dem anderer Menschen schon sehr einfach gestrickt ist) und wieder wurde mir bewusst, dass es für mich in nächster Zeit nur darum gehen wird, zu vereinfachen. Alle Stellen zu finden, an denen ich mein Leben einfacher, vielleicht auch ein Stück ursprünglicher gestalten kann, damit mehr Zeit und Raum bleibt für das, was sich wirklich tun und leben möchte.

Ich möchte meine Zeit so leben wie es mir gefällt und mir den Luxus leisten, weniger an meinen Stundenlohn zu denken als an das was mir wirklich etwas gibt.
Zu diesem Luxus gehörte unser kleines Abenteuer über das Sir Duncan Euch berichtet hat. Ich habe in diesen drei Tagen nichts weiter getan, als Zeit mit meinem Mann und unseren beiden Ponys zu verbringen. Wir waren nicht auswärts essen, wir haben noch nicht mal mehr geschlafen als sonst. Wir haben abgeäppelt und die Ponys versorgt und waren stundenlang mit ihnen zusammen – weiter nichts. Abends haben wir schnöde ferngesehen. Kein „Achtsamkeitsprogramm“, keine „Auszeit“ von irgendwas. Mein Handy war an und ich habe auch Nachrichten von Kunden beantwortet. Und doch waren es drei wunder-volle Tage die wir sehr genossen haben. Die Einfachheit des Lebens – obwohl es körperlich recht anstrengend war – hat mir gut getan. Die Einfachheit, die meine Ponys leben: schlafen, wenn man müde ist, spielen, wenn man Langeweile hat und ab und zu ein Abenteuer erleben zur Abwechslung.
Der Alltag, den viele Menschen als so „grau“ empfinden, ist mein höchstes Gut geworden. Ich bin froh, ihn wieder gefunden zu haben, meinen Alltag. Und ja, ich werde ihn verbessern an Stellen an denen ich Lust dazu habe. Aber ich möchte mich lossagen davon, getrieben und angespornt von außen etwas an mir und meinem Leben zu verändern, nur weil es in unserer Gesellschaft „in“ ist, total gestresst zu sein, keine Zeit zu haben und sich selbst viel zu viel aufzuhalsen. So wie ich mein Pony auf eine Art und Weise ausbilden möchte, die alles an ihm so lässt wie er nun mal ist, so möchte ich endlich anfangen, mich selbst so zu nehmen wie ich bin und mir nicht mehr einreden lassen, dass es da etwas zu verbessern gäbe. Auch das hundertste Seminar macht keinen besseren Pferdemenschen aus mir. Was einen besseren Pferdemenschen aus mir macht ist die Zeit, die ich mit meinem Pony verbringe und in der ich ungehetzt und ohne Anspruch erforschen und ausprobieren kann. Und die Zeit danach, in der ich meinen Gedanken freien Lauf lasse und überlege, was da heute passiert ist und warum. Natürlich möchte ich lernen und Duncan möchte auch noch ganz viel lernen. Es ist das Gefühl dahinter um das es mir geht. Lernen, weil etwas noch nicht gut genug ist, weil ich etwas kritisiere oder lernen um des Lernens willen, das sind zwei ganz unterschiedliche Paar Schuhe.
Duncan hat keine Uhr und keinen Terminkalender. Er hat keinen Ausbildungsplan und kein Ziel. Er lebt in den Tag hinein und schaut einfach was passiert und worauf er gerade Lust hat. Und auch wenn ich diese Leichtigkeit des Seins nicht erreichen kann, weil ich keinen Besitzer habe, der für alles sorgt, sondern ganz erwachsen für mich selbst sorgen darf, möchte ich doch möglichst viel von ihm darüber lernen, wie das geht, so unbeschwert und ungeplant, ungestresst und ohne Anspruch an sich selbst zu sein. Denn er – im Gegensatz zu all jenen Angeboten, die es so gibt an Achtsamkeit, Auszeiten oder wasweißich – lebt wirklich außerhalb des Systems in dem wir alle so gefangen sind. Und gerade jetzt im Herbst gibt es eine wichtige Lektion von ihm zu lernen: wenn Sturm ist, ist Sturm. Dann ist man wach und aufgekratzt, aufmerksam und auch mal unentspannt. Danach, wenn der Sturm sich gelegt hat, kehrt die Stille zurück und will genossen werden. Zum Beispiel mit einem schönen Schläfchen. Wann nur haben wir Menschen das eigentlich verlernt….