Es ist heiß. 30 Grad im Schatten reichen, um aus meinem Gehirn so etwas wie einen geschmolzenen Klumpen Käse zu machen. Die Nächte sind mir zu warm zum schlafen und meine Laune sinkt mit jedem Tag. Während andere Menschen vergnügt zum Strand fahren habe ich bei diesem Wetter einfach gar keine Lust auf nichts. Mein einziger Wunsch ist, dass das Thermometer unter die 25 Grad-Marke fallen möge, damit ich mich wieder lebendig fühle. Bis dahin bin ich im „Überlebensmodus“. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich das 2018 geschafft habe, aber ich glaube, da war es so lange so, dass ich mich irgendwann doch daran gewöhnt hatte. So eine Art Kapitulation.
An solchen Tagen wünsche ich mir oft, ich wäre mein Pony. Ich würde den ganzen Tag oben in der Ecke zum Nachbarn stehen, unter den Bäumen, wo ein leichter Windhauch weht und ich würde nur zum Heu essen runter kommen.
Aber unsere Ponys sehen das anders. Sie stehen lieber unten im Stall und verdösen dort den Tag. Auch wenn es – vor allem in unserer kleinen Halle – im Laufe des Tages zunehmend stickig wird, sind sie noch dort. Und ab und zu gehen sie raus, knabbern in der prallen Sonne etwas von den Hälmchen, die den Weg unterm Weidezaun durch gefunden haben und bummeln ein bisschen herum. Und wieder zeigt sich: ich bin eben kein Pony (so sehr ich auch wie eines riechen mag). Wir haben unsere Ponys nun seit 16 Jahren am Haus, aber noch immer verstehe ich viele Dinge nicht. Wann gehen sie rein, wann gehen sie raus, wann steht wer mit wem zusammen, wann sind sie sehr hungrig und wann weniger? Warum bevorzugen sie manchmal die eine Tränke und manchmal die andere? Sie geben mir immer wieder Rätsel auf. Und als ich neulich ein wunderbares Interview mit Mark Rashid gelesen habe https://www.danielakaemmerer.de/interview/wir-muessen-die-pferde-verstehen-lernen-interview-mit-mark-rashid/ kamen mir wieder all die kleinen Dinge in den Kopf, über die ich beim Lesen mal so gestolpert bin. Darüber, wie Pferde sehen, zum Beispiel. Etwas, was wir Menschen uns ja gar nicht vorstellen können: die Augen so weit seitlich am Kopf, dass es zwei jeweils zweidimensionale Bilder gibt und in der Mitte ein kleiner Überschneidungsbereich in dem es dreidimensional wird. Aber auch einen viel größeren blinden Fleck direkt vor der eigenen Nase als bei uns, ein Sichtfeld das mehr auf den unteren Teil der Welt ausgerichtet ist und ein anderes Farbsehen, besseres Sehen in der Dunkelheit aber langsameres Anpassen an Veränderung der Lichtverhältnisse. Die Wahrnehmungspriorität liegt beim Pferd viel mehr auf Bewegungen – macht ja auch Sinn, wenn man den Säbelzahntiger im Gebüsch erkennen möchte.
Und erst neulich, als ich die alte Stute meiner Freundin fahren durfte, haben wir übers Hören gesprochen. Wie kann das Pferd meine Stimmkommandos so gut hören wenn vor ihr der kläffende Hund her läuft? Tja, sie kann ihre Ohren drehen – ich nicht (was ich manchmal sehr bedaure).
Vom Riechen will ich gar nicht erst anfangen – was uns da an Information entgeht! Besonders bei Duncan werde ich da immer wieder aufmerksam. Pferde können Pheromone riechen und wer weiß was für Informationen er so aus den Äppelhaufen herausliest die er untersucht. Als Hengst wird die Wichtigkeit dieser Information für ihn im Laufe der nächsten Jahre sicher noch bedeutsamer werden als für unsere Wallache.
Und wenn unsere Ponys Brennnesseln fressen oder Disteln oder Brombeerzweige, dann wird mir manchmal ganz anders. Ich kann die Dinger noch nicht mal anfassen ohne mir weh zu tun und die futtern das so weg. Und wenn wir dann im Winter Bodenfrost haben und Minusgrade und die Ponys gemütlich draußen liegen und schlafen (obwohl sie auch drinnen liegen könnten) dann weiß ich wieder: die empfinden das alles anders als wir. Ich glaube, sie leben in einer ganz anderen Welt. Wenn ich mit Duncan „Rumstehtraining“ mache und mich einfach mal von ihm mitnehmen lasse, dann versuche ich, die Welt so zu sehen wie er. Was riecht er hier, wonach lauscht er jetzt, was hat er dort gesehen und was bewegt ihn dazu, jetzt dort rüber zu gehen? Aber ich weiß: das ist nur ein kläglicher Versuch. Ich bin weit davon entfernt, zu wissen, wie er die Welt wahrnimmt. Er sieht sie – buchstäblich und metaphorisch – in ganz anderen Farben als ich. Und er weiß nicht, wie ich die Welt sehe. Er kann es nicht wissen. Er kann manches erfühlen, wenn er neben mir her geht. Zum Beispiel bei unseren ersten Spaziergängen, wo jedes laute, besonders große Fahrzeug mir Angst eingejagt hat, weil Finlay Probleme mit diesen Monstern hatte. Da hat Duncan ganz sicher meine Angst gespürt (und gerochen!). Hat er auch gespürt, dass ich versucht habe, ihm zu vermitteln, dass ich mich nicht vor dem Monster fürchte, sondern vor seiner Reaktion? Wer weiß…
Immer wieder, wenn ein Pferd starr ins Gebüsch schaut, sind wir Menschen geneigt, zu sagen „da ist nichts“. Und wie oft sind wir schon eines Besseren belehrt worden. Und auch wenn da nichts sein sollte, manchmal ist es doch besser, nochmal nachzuschauen, wenn man einen Ast hat knacken hören oder einen Schatten gesehen hat. Zumindest, wenn man auf dem Speiseplan einiger Tiere auftaucht…
Ich habe mir daher angewöhnt, in den allermeisten Fällen mit meinem Pferd zusammen zu schauen. Zu versuchen, wahrzunehmen, was mein Pferd wahrnimmt. Ich bin nur selten erfolgreich, aber wenigstens weiß mein Pferd, dass ich ihm glaube. Meist können wir dann nach kurzer Zeit problemlos weiter arbeiten.
Und ich versuche, den Lebensraum meiner Ponys so zu gestalten, dass sie ihr Verhalten an ihr eigenes Empfinden anpassen können anstatt an meines . Sie können rein und raus, auf unserem Rundlauf gibt es verschiedene „Klimazonen“ zur Auswahl, es gibt Büsche und Bäume und zwei verschiedene Tränken sowie – wenn es denn mal wieder genug regnet – die Möglichkeit, Regenwasser zu trinken. Wenigstens diese kleinen Dinge kann ich meinen Ponys bieten. Es ist viel zu wenig Wahlfreiheit, ich weiß und ich bin stets um Verbesserung bemüht. Ich freue mich, dass es zumindest mehr Freiheit ist als für viele andere Pferde, die ihr Leben in Boxen oder langweilig viereckigen Paddocks fristen. Und jedesmal, wenn wir etwas verändern, lassen wir uns überraschen, was die Ponys davon halten. Denn Vorhersagen bleiben schwierig: ich bin eben kein Pony.
Ich sage den Jungpferdebesitzern unter meinen Schülern oft: das erste was junge Pferde lernen müssen ist, dass Menschen verrückt sind. Menschen tun ständig Dinge, die aus Pferdesicht keinerlei Sinn ergeben. Sie haben keine Ahnung von den wahren Gefahren des Lebens und sie sind stets und ständig zu langsam (Pferde haben eine ungefähr doppelt so schnelle Reaktionszeit wie wir). Menschen sind blind, taub und blöd, halten sich aber für die Krone der Schöpfung. Wenn ein Jungpferd das gelernt hat, dann kann es herausfinden, dass die Zusammenarbeit sich trotzdem lohnt und dass es in der Menschenwelt durchaus sein kann, dass der Zweibeiner sich mal besser auskennt. Und wenn wir es geschickt anstellen, kann am Ende jeder von den Fähigkeiten des anderen profitieren. Nennt sich Domestizierung: die Pferde kommen in den Genuss von Futter, Wasser und Sicherheit im Austausch gegen die Leistungen, die sie für uns erbringen. Wenn es gut läuft, ist das ein durchaus sehr viel bequemeres Leben als in der Wildnis – wenn auch mit weniger Freiheit. Meine Welt wird zu seiner Welt – ein Stück weit. Und seine Welt wird ein winziges bisschen zu meiner Welt, wenn ich mich darauf einlasse.