Nun hat es also angefangen, das neue Jahr. Für mich klingt 2020 nach Zukunft. Ehrlich gesagt klingt für mich sogar 2010 immer noch nach Zukunft. 2020 klingt so nach science fiction dass ich erwartet hatte, dass mein Auto anfängt zu fliegen. Hat es aber nicht. Stattdessen haben wir Klimawandel und Stau.
Wir Menschen sind irgendwie darauf aus, dass sich an bestimmten Tagen bestimmte Dinge verändern. Ein neues Jahr, ein neues Auto, ein neues Haus, ein neuer Job. Urlaub, Wochenende, ein Kind bekommen oder eben: ein Pony kaufen.
Das Jahr 2019 hat mir gezeigt, wie absurd das ist. Erst habe ich meinen geliebten Finlay verloren, der noch mindestens 20 Jahre hätte bei mir sein sollen (bis 2040! Was für eine Zukunftsvision!) und dann habe ich plötzlich Duncan gekauft, in einem Anfall von offensichtlicher Ver-rückt-heit. Alles ist ver-rückt geworden, alles ist verschoben. Der Tag, an dem sich unser Leben dramatisch verändert ist wohl nur selten der Tag, von dem wir das erwarten. Genaugenommen kann jeder Tag sich als einer entpuppen, der unser Leben dramatisch verändert. Das wissen wir alle – wir vergessen es nur gerne mal. Denn normalerweise läuft unser Leben ja sehr geregelt ab und wir bilden uns gern ein, alles unter Kontrolle zu haben.
Und die Pferde? Die planen nicht. Pferde legen ja noch nicht einmal Wintervorräte an. Sie verlassen sich darauf, dass sie Futter finden (in der Wildnis) oder welches bekommen (von uns). Für sie ist vielleicht viel deutlicher, dass jeder Tag den gleichen Wert hat – wenn er beginnt. Am Ende des Tages ist es auch für die Pferde unterschiedlich gut gelaufen.
Wenn ich heute zu meinem Pferd gehe, dann erinnert mein Pferd sich an gestern und an all die Tage davor. Es erinnert sich, was mit uns beiden so passiert ist, welche Verhaltensweisen ihm geholfen haben, seine Ziele zu erreichen. Es erinnert sich (und das ist wissenschaftlich belegt), welche Laune ich gestern hatte. Aber hat es Pläne für heute? Ich höre Euch sagen „nein“. Weil uns immer gesagt wird, Pferde seien im hier und jetzt. Aber ist das so? Wenn das Pferd sich erinnert ist es nicht im hier und jetzt, sondern in der Vergangenheit. Und dass sie sich erinnern, wird wohl keiner leugnen.
Aber hier kommt das, was mich am meisten fasziniert: ich habe schon so manches Mal erlebt, dass ein Pferd eine Lektion zeigt, die man vor Wochen oder Monaten mal erfolglos probiert hat. Finlay war Meister darin. Er kam dann plötzlich und zeigte ein Verhalten, von dem ich oft erst gar nicht wusste, woher das jetzt kommt – bis mir einfiel, dass wir das irgendwann mal versucht haben und es uns nicht gelungen ist! Woher kommt das? Ist es eine Erinnerung, die durch irgendetwas getriggert wird? Oder ist es Zukunftsplanung, der Versuch, die eigene (sehr nahe) Zukunft schöner zu gestalten (weil ein Lob oder Leckerli kommt)? Was hat da in den Tiefen des Gehirns gearbeitet, dass jetzt plötzlich ein Ergebnis kommt? Jedes Mal wenn Finlay das getan hat, war die Lektion perfekt. Er hat dann nicht mehr herumprobiert und nachgefragt. Er schien zu sagen: „das, was Du da wolltest, vor ein paar Wochen, das kann ich jetzt. Schau!“ und ich stand mit offenem Mund daneben.
Wir bilden uns ja gern ein, wir würden Probleme durch Nachdenken lösen. Aber seit ich dieses Verhalten bei Finlay beobachtet habe, bin ich davon nicht mehr überzeugt. Denn „Nachdenken“ wie wir es nennen, kann es beim Pferd wohl kaum geben, dafür fehlen ein paar wichtige Gehirnstrukturen. (sagen wir mal: nach heutigem Stand der Forschung). Aber „nach-denken“ heißt ja eigentlich auch nur, dass wir im Nachhinein denken. Dass etwas nachwirkt, uns vielleicht nachhängt. Wir denken nach, um Schlussfolgerungen ziehen zu können für die Zukunft. Denn so geht lernen: aus der Vergangenheit für die Zukunft. In der Gegenwart ist lernen witzlos.
Und so glaube ich nicht mehr daran, dass Pferde immer im hier und jetzt sind. Wenn ich eine Sprühflasche in die Hand nehme und mein Pony Angst bekommt, ist es in der Vergangenheit (denn jetzt gerade tut die Sprühflasche nichts – sie löst nur erinnerte Gefühle aus). Wenn ich meine Hand in die Tasche stecke, ist Diego sofort in der Zukunft, bei dem Keks der da raus kommen soll. Und ich glaube, er plant ein Stück weit diese Zukunft sogar. Denn er denkt – in diesem Fall nicht nach, sondern voraus.
Einige von Euch möchten mir vielleicht wiedersprechen. Ich werde mich nicht wehren können, ich bin kein Wissenschaftler. Aber dieser kleinste gemeinsame Nenner: das Pferd lernt aus der Vergangenheit für die Zukunft – vielleicht können wir uns darauf einigen. Denn ein Pferd wird ein gelerntes Verhalten nicht nur in diesem Moment anwenden, es wird das Verhalten auch anschließend verändern (Ihr erinnert Euch vielleicht: Duncan sagt „das hat geklappt, jetzt mache ich doppelt so viel“ Finlay hat gesagt „das hat geklappt, jetzt schaue ich ob die Hälfte reicht“) und weiter verfeinern: gut investierte Arbeit FÜR DIE ZUKUNFT.
Lernen macht unser Leben leichter und besser und darum sind wir alle – Menschen und Tiere – von der Evolution darauf ausgerichtet, gern zu lernen.
Lernen macht uns zu besseren Menschen, nicht moralisch gesehen, sondern rein evolutionär funktional besser.
Mein liebstes Zitat an dieser Stelle kommt von John Ruskin über den ich zugegebenermaßen weiter gar nichts weiß:
„Der höchste Lohn für unsere Bemühungen ist nicht das, was wir dafür bekommen, sondern das, was wir dadurch werden.“ (John Ruskin)
Was, wenn wir dieses Jahr einmal mit dieser Idee beginnen? Was, wenn wir nicht darüber nachdenken, was wir 2020 erreichen wollen, sondern darüber was wir werden wollen?
Eine Schülerin, die sich mutig in das Abenteuer „Freedom Based Training“ (Elsa Sinclair) stürzt und sich von mir dabei ein bisschen anleiten lässt, sagte zu mir „ich möchte ein besserer Mensch für meine Pferde werden“. Schöner kann ich es nicht formulieren. Und wie werden wir das? Indem wir aus der Vergangenheit lernen – für die Zukunft. Lernen kann manchmal hakelig und schwierig sein. Aber ich hatte einen guten Lehrmeister, der mir über das Lernen etwas beigebracht hat.
Finlay-Lektion Nummer 5: wenn etwas nicht gelingen will, lass es ruhen, es wird von selbst zu Dir zurückkommen.
Diese war für mich im Jahr 2019 vielleicht die wichtigste aller Lektionen. Nicht im Pferdebereich, sondern für mich selbst. So vieles ist mir nicht gelungen. „Lass los“ haben sie gesagt. „Sei dankbar“ haben sie gesagt. „Nimm es an, wie es ist, Du kannst es nicht ändern“ haben sie gesagt. „schau nach vorn“ haben sie gesagt „denk an die guten Zeiten“ haben sie gesagt.
Nichts davon ist mir gelungen. Und so habe ich schließlich kapituliert. Ich habe akezptiert, dass es mir schlecht ging – schlechter als je zuvor in meinem Leben. Habe akzeptiert, dass mein Körper so heftig mit Krankheit auf meinen seelischen Zustand reagiert hat und ich machtlos war und nichts für ihn und mich tun konnte. Habe akzeptiert, dass mein Leben sich vom Ponyhof zum Friedhof verwandelt hat. Ich habe aufgehört, zu versuchen, es besser zu machen. Ich habe aufgehört, es reparieren zu wollen. Ich habe aufgehört, verstehen zu wollen. Das einzige was ich noch tun konnte, war, mir selbst den Vortritt zu geben. Mich selbst an erste Stelle zu stellen, mir nicht zu erlauben, mir noch Sorgen um andere zu machen, mir nicht zu erlauben, mich zu überfordern. Genau zu beachten was mir gut tut und was nicht. Hinzunehmen, dass die kleinste alltägliche Belastung zu viel sein könnte und nicht von mir zu erwarten, dass ich funktioniere. Damit zu leben, dass ich beim kleinsten Anlass in Tränen ausbreche, dass jede Winzigkeit mich tagelang aus der Bahn wirft. Damit zu leben, dass es dunkel war in mir und festzustellen, dass ich dennoch weitermachen möchte, selbst wenn es für immer so bleiben sollte. Das war das einzige was noch ging. Manchmal hat mir auch geholfen, die Menschen um mich herum zu sehen, die schlimmeres erlebt haben und dennoch Freude im Leben finden. Oder zu sehen, dass auch in meinem Leben noch viel Freude ist: mit Merlin, mit Diego, mit meinen Schülern und Kundenpferden. Zu überleben, dass diese Freude einen großen Schatten wirft, der Finlay heißt. Die allgegenwärtige Angst als Begleiter zu akzeptieren, als Teil von mir, der nun eben dazu gehört.
Und aus diesem Ruhen-lassen sind all die Dinge entstanden, mit denen ich das neue Jahr beginne: Das Loslassen, die Dankbarkeit, der Blick nach vorn, die guten Erinnerungen, vor allem die Hoffnung. Die Hoffnung, so sagt man, stirbt zuletzt. Das bedeutet, sie wird immer da sein, sogar noch dann wenn wir selbst gestorben sind. Bis zum Ende wird sie da sein. Manchmal können wir sie nicht sehen, aber sie ist trotzdem da. Manchmal verkleidet sie sich und versteckt sich an unerwarteten Stellen.
Meine Hoffnung steht ihm Stall. Noch ist sie klein und schwarz, aber schon im Frühling wird sie mit dem Fellwechsel ihre Farbe verändern. Was für eine Symbolik, dass die kleine Hoffnung die da steht, nun jedes Jahr etwas heller werden wird. Noch lange wird Duncan wohl dunkle Stellen haben, viele Jahre, nehme ich an. Dunkle Stellen die den Schatten darstellen den die Freude über ihn wirft. Aber er wird immer heller werden, so wie mein Leben wieder heller werden kann. Und je mehr Sir Duncan und ich zusammenwachsen und zusammen wachsen desto heller werden jene dunklen Stellen: Das Vermissen, das Bereuen, die Wut, die Angst, die Verzweiflung, die Krankheit, das Unverständnis.

Das ist zumindest meine Hoffnung. Auch heute kann wieder ein Tag sein, der mein Leben dramatisch verändert. Zum Schlechten oder zum Guten.
Aber auch heute ist ein Tag, an dem ich mich bemühen kann etwas zu werden.
Ich nehme mir schon seit vielen Jahren an Neujahr nichts mehr vor. Ich glaube, ich habe das nie ernsthaft getan. Es ergibt für mich keinen Sinn, bis Neujahr damit zu warten. Ich kann mir jeden Tag etwas vornehmen – und den Vorsatz jeden Tag brechen. Es steht mir frei. Aber ein besserer Mensch zu werden für meine Pferde ist etwas, was ich jeden Tag tue – ganz ohne Vorsatz. Weil ich meine Ponys liebe und sie es verdient haben. Und weil auch meine Ponys jeden Tag bessere Ponys werden, ganz ohne zu wissen, was ein Neujahrsvorsatz ist. Ich möchte auch noch Elsa zitieren über den Umgang mit Pferden: „Wenn ich es richtig gemacht habe, lernt das Pferd etwas. Wenn ich es falsch gemacht habe, lerne ich etwas.“
Eine sehr tröstliche Sichtweise für alle die sich – wie ich – gern mal übermäßig über ihre eigenen Fehler aufregen. Und sehr nah an John Ruskin:
Der höchste Lohn für unsere Mühen ist das, was wir dadurch werden.