Lehrmeister

Friedlich ist der Normalzustand geworden in der Herde, Reibereien sind inzwischen die Ausnahme.

Große Lehrmeister habe ich da im Stall stehen.
Diego, Caruso und Merlin ziehen jetzt zum zweiten Mal gemeinsam einen kleinen Rotzlöffel groß. Sie haben schon aus Finlay ein gutes Pony gemacht und wenn ich sie jetzt mit Duncan sehe, dann glaube ich, sie haben aus dieser Erfahrung gelernt. Und Gatsby fügt sich nahtlos in dieses „Erzieherteam“ mit ein.
Vielleicht gehen sie mit Duncan anders um als mit Finlay, weil Duncan nunmal anders ist, aber ich glaube, sie gehen auch deswegen anders mit ihm um, weil sie gelernt haben (genau wie ich ja auch). Wie Mütter (Menschen- genauso wie Pferdemütter) Erziehungs-Wissen bei einem Kind sammeln für das nächste, so glaube ich sind auch unsere Ponys zu besseren „Eltern“ geworden dank der Erkenntnisse die sie durch Finlay gewonnen haben.
Alle vier erwachsenen Ponys sind sich auffallend einig was Duncan angeht. Wenn er von einem einen Rüffel kassiert hat, kann er nicht zu einem der anderen gehen und sich dort ausweinen– wenn einer ihn ermahnt, ziehen alle anderen mit. Wenn einer sagt „weg von meinem Heu, Du hast Dich ungebührlich verhalten“ sagen alle anderen das auch.
Was genau dieses „ungebührliche Verhalten“ ist, habe ich noch nicht herausgefunden, aber die Ponys wissen offensichtlich, was sie tun. Ich hoffe, es bald zu entdecken, denn für mich sind das so wertvolle, wichtige Informationen.
Finlay hatte immer einen „Babybonus“ bei den anderen und den hat er weidlich ausgenutzt – auch mit 8 Jahren noch. Sowohl mit Merlin als auch mit Gatsby hatte Finlay so eine Art Kumpelei, bei der nie eindeutig zu erkennen war, wer letztlich das Sagen hat. Und Diego hat seinem Ziehsohn unendlich viel durchgehen lassen. Finlay hat sich überall durchgeschummelt, viele Rüffel einfach ignoriert und an sich abprallen lassen und sich im Zweifel an Diegos Rockzipfel gehängt.

In der Erziehung des Ritters hingegen übernimmt zu meiner großen Überraschung Merlin die Hauptarbeit. Ausgerechnet Merlin, der sich bisher nie durchsetzungskräftig und konsequent gezeigt hat – ganz im Gegenteil – erweist sich jetzt als hervorragender Onkel. Er ist sehr lieb zu Duncan, so lange der sich an die Regeln hält. Aber wehe wenn nicht – dann setzt es was! Und Duncan nimmt das sehr ernst – etwas, was weder Finlay noch die Shettys je getan haben.
Jeden Tag fordert Merlin Duncan auch nachdrücklich zum Spielen auf. Merlin findet, jetzt wird gespielt und er erinnert mich an Eltern, die mit ihren kleinen Kindern einen ausgiebigen Spaziergang machen in der Hoffnung dass die Kleinen nachher müde sind und schlafen. Im Spiel fällt mir auf, dass Merlin seine Überlegenheit sehr deutlich macht. Während er mit Finlay immer „auf Augenhöhe“ gespielt hat und Finlay die gleichen Chancen gelassen hat, zu gewinnen, so schiebt und schubst er Duncan ordentlich durch die Gegend und lässt ihn wissen, dass er der größere und stärkere von den beiden ist.
Und ich schaue zu und lerne – denn Duncans Selbstbewusstsein leidet kein Stück unter dieser Behandlung. Er hat einfach so viel davon, dass immer noch genug übrig bleibt um erhobenen Hauptes durch die Gegend zu laufen.

Diego kümmert sich augenscheinlich kaum um Sir Duncan. Duncan folgt ihm stundenlang wie ein kleiner Schatten und ahmt alles nach was der große tut. Diego lässt ihn gewähren – meistens.
Während Finlay immer ganz nah bei Diego war und ihn manchmal auch ordentlich genervt hat, trägt Duncan die meiste Zeit seinen „Tarnumhang“. Er ist fast unsichtbar, so leise verhält er sich dann. Als würde er auf Zehenspitzen um Diego herum schleichen und ganz still „mit den Augen klauen“.
Ich erinnere mich daran, wie ich – als Finlay schon ungefähr 2 oder 3 Jahre alt war – plötzlich begriffen habe, worauf ich bei ihm wirklich achten darf. Finlay war etwas pubertär und suchte nach Grenzen, nicht nur bei mir sondern vor allem auch bei Diego. Diego hat immer vieles ausgesessen und ignoriert (klar, mit 640kg Lebendgewicht kann man sich das leisten!). Aber WENN ihm dann mal die Hutschnur geplatzt ist, dann hat es dermaßen gescheppert, dass Finlay bedripst in der Ecke stand und gar nichts mehr gesagt hat. Diego hat ihn nie verletzt, er ist nur mit viel Karacho auf ihn zu und dann hinter ihm her geschossen, das war schon enorm beeindruckend.
Von Diego habe ich gelernt, dass Finlay nicht VIELE Grenzen brauchte, aber unverrückbare, massive Grenzen. So habe ich versucht, Diegos Verhalten nachzuahmen, habe viel ignoriert und an den Stellen, an denen es mir wirklich wichtig war, habe ich dann so massiv reagiert, dass Finlay ernsthaft beeindruckt aussah. Damit bin ich bei Finlay sehr gut gefahren (und auch bei vielen anderen Ponys).
Bei Duncan läuft das anders. Duncan muss sich – so mein Eindruck – in viel engeren Grenzen bewegen als Finlay. Nichts wird ihm verziehen, jedes kleine Vergehen wird abgemahnt. Andererseits reagiert Duncan auch auf jede kleine Abmahnung. Vieles, was Finlay einfach an sich hätte abprallen lassen, macht auf Duncan durchaus Eindruck. Mir scheint, er ist sehr viel mehr auf Frieden und Harmonie aus als Finlay, der gerne auch mal geboxt und gerauft hat. So müssen die anderen nie sehr laut werden – ein paar angelegte Ohren und ein böser Blick reichen meist völlig aus um den Ritter in seine Schranken zu verweisen.
Trotzdem versucht der natürlich, das Beste für sich raus zu holen und lotet genau aus, was geht.
Auch mir gegenüber probiert er sich mehr aus und fordert Dinge mit mehr Nachdruck. Er will doch jetzt mal wirklich, wirklich beim Spaziergang grasen wann er will! Er wird nicht heftig, er versucht es nur dauernd wieder. Wie eine Schallplatte die einen Sprung hat „ich möchte bitte grasen, ich möchte bitte grasen, ich möchte bitte grasen, ich möchte bitte grasen, ich möchte bitte grasen, ich möchte bitte grasen“. Eine Art „mürbe machen“. Und diese Taktik versucht er auch in der Herde. Blöd nur für ihn, dass wir alle – die Ponys und ich – diese Taktik gut kennen und nicht darauf hereinfallen. Ich bin gespannt, was er sich als nächstes ausdenkt. Da er in seiner Nachfrage nicht deutlicher wird, werde ich auch in meiner Antwort zunächst nicht deutlicher. Ich bin aber auf der Hut und überlege, wie ich künftig damit umgehen möchte. Ich sehe, dass er erfolgversprechendes Verhalten stark steigert (sowohl das, was ich möchte, als auch das was ich nicht möchte). „Das hat geklappt, jetzt mache ich doppelt so viel davon“. Finlay hingegen war das komplette Gegenteil. „Das hat geklappt, jetzt schau ich mal ob die Hälfte auch reicht“. So muss ich mich ziemlich umgewöhnen vom einen Schotten auf den anderen.

Und derweil lerne ich weiter. Ich beschließe, Duncan mehr zuzutrauen. Bei unserem 4. Spaziergang schaffen wir schon die ganze „Hausrunde“. Wir brauchen für die 4km eine ganze Stunde, weil wir zwischendurch immer wieder Graspausen machen. Ich gebe mein Bestes, die Graspausen in günstigen Momenten zu geben, wenn Duncan gerade mal NICHT darüber diskutiert, dass er essen will, allerdings ist er dann oft gerade so im Fluss, dass er gar nicht mitkriegt, dass er jetzt essen dürfte.
Am Ende des Spaziergangs ist Duncan sichtlich müde, aber er hat nicht diesen glasigen Blick, den ich von anderen müden Jungpferden kenne (den habe ich bei Duncan überhaupt noch nie gesehen). Er ist zwar etwas langsamer in seinen Reaktionen, aber durchaus noch konzentriert genug um alles mitzukriegen und er bleibt in Kontakt mit mir.

Abends holen wir ihn noch einmal um seine Hufe sauberzumachen und einzuschmieren. Und siehe da, er kann wieder ganz ordentlich und gesittet stillstehen, Hufe geben und absetzen wie ein Großer, wo er vor dem Spaziergang nur ungeduldig und hampelig war. Anscheinend hat unsere große Runde ihm gut getan, er wirkt überhaupt nicht müde und schon gar nicht überfordert.

Ich schlussfolgere: wenn er nervt, braucht er mehr zu tun. Und zwar eine ganze Menge mehr.
Und ich frage mich im Stillen, wie ich diesen Beschäftigungsbedarf jemals stillen können soll, so lange ich ihn noch nicht reiten oder fahren kann. Könnte interessant werden!

So viele meiner Unterrichtsstunden – gerade mit jungen Pferden – verbringe ich damit, den Menschen zu zeigen, dass ihre jungen Pferde geistig überfordert sind, schnell müde. Dass sie kleinere Einheiten brauchen, mehr Pause, kleinere Lernschritte. Ständig beruhige ich meine Schüler, dass das meiste von allein kommt, dass manche Dinge einfach reifen müssen anstatt dauernd geübt zu werden. Immer plädiere ich für Vorsicht und Rücksicht.
Und nun habe ich die Ausnahme im Stall stehen – war ja wieder klar. Da kommt so ein Ritter in glänzender Rüstung und wirft all meine Ideen über den Haufen, all meine Vorstellungen davon, wie lange es dauert, bis so ein Zwerg das alles verkraften kann.

Und ich bin unendlich dankbar für meine 4 Lehrmeister, die zu beobachten mir so sehr hilft dabei, Sir Duncan richtig einzuschätzen.

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