Eine Erzählung meiner Mutter aus der Kindheit meiner Schwester ist bei mir ein beliebtes Beispiel für Pferdeausbildung. Meine Mutter hat mir erzählt, dass meine Schwester sehr schnell buchstabieren konnte – aber nicht lesen. Lange hat es gedauert, bis in ihrem Kopf aus den einzelnen Buchstaben auch Wörter geworden sind.
Warum das mein Beispiel ist? Weil es uns klar macht, dass wir Verstehen nicht erzeugen oder erzwingen kommen. Etwas verstehen – das kommt aus uns selbst, aus unserem Gehirn von wer weiß wo. Wir alle kennen das, wenn das Verstehen plötzlich und unerwartet über uns hereinbricht. Neulich hat mir jemand einen komischen Kommentar auf Facebook geschrieben. Ich hatte versucht, den Kommentar zu verstehen, war aber gescheitert. Also hatte ich das Thema abgehakt. Drei Tage später kam mir plötzlich die Lösung und ich verstand, wie der Satz gemeint war. Offensichtlich hatte mein Gehirn weiter daran gearbeitet ohne dass mir das bewusst gewesen wäre.
Exakt diesen Mechanismus können wir uns in der Pferdeausbildung zu Nutze machen, indem wir Dinge ruhen lassen. Wir haben vielleicht eine Übung begonnen und keinen Erfolg gehabt. Oder nur einen sehr kleinen und dann haben wir keine Zeit oder Gelegenheit weiterzumachen. Oder wir sind an einem bestimmten Punkt einfach hängen geblieben und es geht irgendwie nicht weiter. Es lohnt sich, Dinge ruhen zu lassen, aber wir brauchen dafür stabile Nerven. Denn niemand wird uns sagen können, wann der Groschen fällt. Niemand wird uns sagen können, ob er denn auch in die richtige Richtung fällt. Ob unser Pferd vielleicht plötzlich sagt „ich hab´s!“ und wir dann leider antworten müssen „neeee das hatte ich nicht gemeint“.
Aber wenn der Groschen fällt – in die richtige Richtung – dann ist das ein toller Moment. Ich mag besonders Witze, bei denen es einen Moment dauert, bis der Groschen fällt. Am liebsten mag ich dann jemand anderem den Witz erzählen oder zeigen und heimlich Sekunden zählen bis zum Beginn des Lachens. Den Gesichtsausdruck zu beobachten zwischen „hm, Witz zu Ende aber was ist hier witzig?“ über „ach……. sooooooo!“ bis hin zum schallenden Gelächter finde ich spannend.
Ich weiß nicht genau, ob meine Mutter sich Sorgen gemacht hat, dass meine Schwester vielleicht niemals wirklich lesen lernen wird, wenn sie alles nur buchstabiert. Ich selbst habe im Laufe der Zeit und während der Arbeit mit vielen Pferden gelernt, dem Groschen mehr zu vertrauen. Wenn er wirklich gar nicht fallen mag, kann man ja noch kreativ werden und andere Wege der Erklärung versuchen. Aber erst mal abwarten und schauen, ob es nicht doch noch passiert.
Bei Duncan scheint ein Groschen gefallen zu sein. Wir haben Fahren vom Boden geübt und zum ersten Mal sind wir ohne „Zielperson“ über den Reitplatz gekreiselt und ich konnte lenken und bremsen und Gas geben – nicht perfekt aber doch in einer Art Kommunikation wie sie vorher noch nie da war. Immer wieder ein erhebender Moment, wenn das Pferd plötzlich versteht! Auch unsere Pferde empfinden das offensichtlich als gute Sache. Einige feiern sich richtig selbst, wenn sie etwas verstanden haben. Sie scheinen dann richtig zu strahlen und sind unendlich stolz auf sich. Andere – und ich glaube zu der Sorte gehört Duncan – verlassen sich so sehr auf ihre Fähigkeiten, dass sie sowieso nicht beunruhigt sind, wenn der Groschen nicht gleich fällt, sondern das Knobeln genießen – vielleicht mehr als den Moment des Verstehens. Wie meine Mutter und ich, wenn wir gemeinsam ein Kreuzworträtsel lösen. Den letzten Buchstaben hineinzuschreiben ist nicht der entscheidende Moment. Immer mal hier und mal da einen Durchbruch zu erzielen, ein Wort „beiseite“ zu legen, ein anderes zu probieren, vielleicht den Text einmal ganz anders zu interpretieren, darin liegt der Reiz. Die große Erkenntnis ist nur das Sahnehäubchen. Klar, ohne die ist alles davor kein Spaß, aber wenn wir alles schnell raus haben, schauen wir uns nachher etwas enttäuscht an und finden, es war zu leicht. Und ich glaube, zu dieser Kategorie gehört auch Sir Duncan. Wir werden sehen, ob diese Theorie sich bestätigt.
Bis dahin beobachte ich, wie er ganz langsam anfängt, Wörter zu erkennen aus den Buchstaben die ich ihn gelehrt habe. Anhalten, rechts, links, vorwärts – nach und nach ergibt sich eine fließende Kommunikation daraus, die nicht mehr nur ein abgehacktes aneinanderreihen von Buchstaben ist, sondern ein erstes „Gespräch“. Ich denke, es ist im Moment weniger eine Ausbildungs- als eine Altersfrage. Duncan entwickelt sich weiter, vielleicht vom Kind zum Jugendlichen. Auch in der Herde scheint mir die Kommunikation komplexer geworden zu sein und er wird als vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied der Gruppe angesehen und nicht mehr als der „Kleine“. Das schützt ihn nicht vor der Erziehung durch die Erwachsenen, aber der Ton ändert sich. Vielleicht hat er auch hier den Sprung vom Buchstabieren zum Lesen geschafft?