Da, ein guter Moment! Ich gehe kurz mit Duncan in Harmonie, nehme einen Atemzug, dann beschäftige ich mich wieder anderweitig. Ein Atemzug, das ist nicht viel. Ein kleiner Augenblick. Aber ich lerne gerade (wieder), dass viele kleine Momente sich ansammeln zu etwas großem.
Neulich, als ich an der Supermarktkasse nicht so recht wusste, wohin mit meinem verbrauchten Einkaufszettel – Sommerklamotten haben irgendwie doch immer zu wenig Taschen – streckte die Verkäuferin mir ihre Hand entgegen „soll ich das für Sie nehmen?“ und hat meinen Einkaufszettel entsorgt. Nur ein Moment, eine kleine Geste, die mir zeigt, dass sie mich wahr genommen hat. Und an diesen Moment erinnere ich mich, obwohl ich den ganzen Rest vergessen habe: welcher Tag gerade war, was ich eingekauft hatte, was ich an hatte, was ich danach gemacht habe. All das, was uns während des Alltags wichtig erscheint und was nachher verschwindet in den tiefen unseres Gehirns um zu verschwimmen mit all den ähnlichen Tagen und Situationen die völlig bedeutungslos waren. Aber an die Aufmerksamkeit der Kassiererin erinnere ich mich.
Das, was ich meinen Schülern schon so lange predige, dass sie auch den kleinsten Moment nutzen sollen, in dem sie still sein können, Hilfen aussetzen, das Pferd nicht stören, den Moment genießen – selbst wenn völlig klar ist, dass es nicht lange klappen wird, das kommt jetzt zurück zu mir. Elsa hat es für mich auf links gedreht – wie so vieles im Freedom Based Training auf links gedreht wirkt, wenn man es vom Standpunkt des „normalen“ Trainings betrachtet. Anstatt mehr oder weniger krampfhaft zu versuchen, mit Duncan in Harmonie zu sein, mich so zu bewegen wie er, eine optimale Position im optimalen Abstand zu finden wo er mag dass ich da bin, gibt es für mich nur noch Momente. Kurze Augenblicke, dann bin ich auch schon wieder „weg“. Und plötzlich fängt Duncan an, dass was er vorher sehr nervig fand, interessant zu finden. Ich erinnere mich an den Songtext von Herbert Grönemeyer „Deine Liebe klebt“. Mein kleiner Teenager sucht nicht wirklich nach Harmonie, nur ab und zu. Es ist meine Aufgabe, es für ihn interessant zu machen. Im „normalen“ Training ist das einfach, da stelle ich ja die Anforderung und er hat etwas womit er sich auseinandersetzen kann. Aber wenn ich im Paddock auftauche und einfach so mit ihm sein möchte, dann ist da keine Herausforderung. Und so geht es ihm auf die Nerven, dass ich so zuckersüß bin, so gar nicht stören möchte, so gar keine Unterhaltung biete. Und er lässt mich das deutlich wissen, wenn es ihm auf die Nerven geht. Ich beobachte ihn mit den anderen Ponys und stelle fest, dass es mit denen gar nicht anders läuft. Kurze Momente des Friedens, dann muss sich schon wieder kurz mal gehascht werden, um dann wieder völlig einträchtig nebeneinander zu stehen. Die anderen finden das offensichtlich wenig dramatisch, er ist halt der nervige Teenager.
Jetzt ist bei mir der Groschen gefallen und ich drehe die Momente-Suche auf links. Anstatt wie im normalen Training möglichst viele Momente zu suchen, in denen es gut läuft, gebe ich mir jetzt die größte Mühe, Duncan weniger Harmonie zu geben als er will. Die Momente des friedlichen Seins sollen für ihn an Wert gewinnen und das tun sie nicht, wenn es immer zu viele davon gibt.
Arnulf hat mir eine Geschichte von einem Schulfreund erzählt, der anfing, zu rauchen. Sein Vater hatte eine sehr wirksame Methode, damit umzugehen: er lud seinen Sohn zum rauchen ein. Es gab Zigaretten, Zigarren und Pfeife zu rauchen, bis der Sohnemann schließlich über der Kloschüssel hing und danach nie wieder rauchen mochte. Alles, was wir im Überfluss haben, wird mindestens wertlos, wenn nicht gar nervig oder eklig. Sogar ich habe irgendwann genug Schokolade gegessen. Und so ist es eben auch mit Duncan und der Ruhe.
Und während das alles, was ich hier schreibe, erst mal nur fürs Freedom Based Training gilt, experimentiere ich doch auch im normalen Umgang damit. Ich erhöhe wieder mal den Anspruch bis der Keks kommt. Ich will ihn öfter auch mal an die Frustrationsgrenze bringen, weil ich glaube, dass er jetzt besser damit klar kommt und ich will weg von dem Gefühl, dass er ja noch so jung ist und deswegen alles immer ganz einfach sein muss. Als echte „Helikopter-Mutter“ muss ich mich da ganz schön selbst beobachten und bin gefordert, meine Automatismen zu ändern.
Ich suche mal wieder nach dem schmalen Grat in der Mitte zwischen Über- und Unterforderung und ich finde neue Sichtweisen auf diesen Grat oder vielleicht ist diese Mitte aus meiner Perspektive ein bisschen woanders als sie früher war. Vielleicht (ganz bestimmt!) liegt es daran, dass Duncan älter geworden ist, aber sicher liegt es auch an den Pferden, die mir im Kundenkreis begegnen und mir aufzeigen, dass ich da noch mehr experimentieren darf und dass jener schmale Grat für ein einzelnes Pferd noch viel weiter in der einen oder anderen Richtung liegen kann, als ich das bisher vermutet hatte.
Neulich sagte eine Schülerin, sie fände es toll, dass ich so „tagesaktuell“ aufs Pferd schaue und nicht einfach ein Programm durch ziehe. Die Wahrheit ist: ich tue das, weil ich mir nie sicher bin. Weil ich immer auf der Suche bin nach dem richtigen Maß für dieses Pferd. Und weil dann, wenn ich endlich das richtige Maß gefunden habe, das Pferd sich verändert und entwickelt (was ja Ziel der Ausbildung ist!) und wieder alles neu angeschaut werden will. Die vielen Fragezeichen in meinem Kopf, die mir das Leben oft so schwer machen, können eben auch ein Segen sein. Daran halte ich mich fest, wenn ich nun wieder an den kleine Stellschräubchen drehe und während ich Momente finde, in denen ich einen Atemzug mit Duncan zusammen sein kann und mich schon abwende während er noch mehr wollte. So dass er eines Tages so viel mehr davon wollen wird, dass er aktiv danach sucht und das harmonische, friedliche Zusammensein ehrlich genießt – mit Glück nicht nur mit mir, sondern auch mit den anderen Ponys, so dass er einfach ein angenehmer Zeitgenosse ist, mit dem alle gern Zeit verbringen. Schließlich besteht jeder beliebig lange Zeitraum ja auch immer nur aus einzelnen Momenten.